Brüder und Schwestern
sich auf einem breiten, zerschlissenen Plüschsessel sitzen, in einer Nacht, die milchig war, einer Leningrader Juninacht, in der Lydias Freunde mit einem uralten, laut surrenden Projektor Tarkowskis »Stalker« an das Bettlaken warfen, eine schäbige Kopie, so zerkratzt, als wären da Millionen zerrupfte Insektenglieder eingebrannt. Manchmal ließ die durch den Türspalt dringende weiche Luft das Laken, und die darauf gezeigte Landschaft, leicht und langsam wellen und verlieh ihr, als habe sie das nötig, noch mehr Eigentümlichkeit. »Surreal, nicht?« hatte Lydia ihm ins Ohr geflüstert, und er hatte zurückgeflüstert, »mehr als das«; und so war es jetzt wieder, bis hin zu dem steten Geräusch in seinem Rücken, damals der surrende Projektor, jetzt der leise klopfende Schiffsdiesel, er trieb Matti durch eine Welt, die ihm zu absurd vorkam, um ihn zu ängstigen, Bedrohung und Verfall, die ohne Zweifel in ihr lagen, zogen links und rechts wie Kulissen vorüber, oder die »Barby« stach durch sie hindurch und teilte sie mit dem Vordersteven, schob sie einfach beiseite, reglos nahm er die Parade der Skelette am Ufer ab, nur manchmal schickte er ein trockenes Husten zu ihnen herüber, aber auch das schien ihm vollkommen fremd, wie von irgendeinem Instrument ausgestoßen.
Nachdem sie den Zement geladen hatten, fuhren sie weiter in Richtung Berlin. Zwischen Erkner und Köpenick traten die Farben langsam wieder hervor, und der Staub blieb zurück. Matti öffnete Tür und Fenster des Steuerhauses. Doch wenig später wurde es draußen stickiger, als es drinnen je gewesen war, und das machte nicht die Sonne, das machten die Schlote der alten Fabriken längs der Spree, die beißenden Qualm absonderten. Er lag als gelbgraue Wolke in der Luft, er war die Luft. Und die Wolke wurde immer dichter, je näher das Schiff dem Kraftwerk Klingenberg kam, bitteres Gelb, das Matti die Augen beizte. Wieder schloß er Tür und Fenster. Aber er fühlte sich jetzt bedrückt. Und fühlte er sich nicht immer so, wenn er hier vorbeifuhr oder anlegte? Das, was er hier sah und roch, mutete ihn nicht unwirklich und interstellar an, sondern nur dreckig und abstoßend. Und noch etwas kam in diesem Moment hinzu, die Erinnerung an den letzten Winter, in dem er wochenlang im Akkord Kohle gefahren hatte, von Königs Wusterhausen ins Kraftwerk, das, er wußte es wie nur wenige sonst, er hatte alles mit eigenen Augen gesehen, bestimmt ein dutzendmal kurz vor dem Abschalten stand, weil die Brennstoffe fehlten, gewiß, zappenduster würde es in der Hauptstadt der Republik, wenn nicht sofort neuer Brennstoff, und sei es billigster taubster Grus, anlandete; einmal war das Zeug in den aus der Lausitz zum Hafen gerollten Waggons derart festgefroren, daß es sich in aller Eile nur noch heraussprengen ließ, die Detonationswelle drückte Matti wie eine gewaltige stählerne Klammer die Schläfen ins Hirn und riß sie in derselben Sekunde wieder raus und fetzte sie weg. Zugleich peitschte die Welle ihm seine Lider zu. Als er sie, zitternd, wieder öffnete, erkannte er, daß die Waggons die bizarrsten Formen angenommen hatten, dynamitgeborene Installationen, beulig, löchrig, spitz, schroff, schrundig, das ganze Gleis voller Schrott, der mühsam weggeschafft werden mußte, was wieder Zeit kostete, ein ständiger Wettlauf, den man irgendwann einmal verlieren würde.
Diese Erinnerung, und manche ähnliche, erschien Matti im übrigen nicht plastisch, nicht in ihren Einzelheiten. Sie, und die ähnlichen Erinnerungen, waren schon verwandelt zu etwas anderem, sie verrichteten ihr Werk wabernd im verborgenen, breiteten sich untergründig aus, das merkte niemand außer Matti selber, und der begriff es auch lange nicht, der wunderte sich nur, warum er mir nichts dir nichts schlechte Laune bekam, in immer kürzeren Abständen, gestern im »Interhotel«, jetzt hier auf dem Kahn, es genügte mittlerweile eine Kleinigkeit, ein falsches Wort, ein übler Anblick, und schon stellte sie sich ein, und er bekämpfte sie auch nicht mehr, sondern überließ sich ihr; Peter Schott hielt das dann jedesmal für eine von Mattis stillen, nicht so recht nachvollziehbaren Schwelgereien.
Matti war jene stumme Übellaunigkeit allerdings schon bekannt gewesen, bevor sie ihn selber erreicht hatte: Immer wieder war sie ihm auf der Straße begegnet, in den Gesichtern der Passanten. Und immer war ihm klar gewesen, daß ausschließlich sie, die Passanten selber, für ihre Griesgrämigkeit
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