Brüder und Schwestern
Zweiglein. Und ich lag da und habe ihm nachgeschaut. Jämmerlich geheult habe ich, denn es hat verdammt weh getan, aber ich konnte niemandem die Schuld geben, es war einfach Pech. Und dadurch habe ich dem Finger auch nicht allzu lange nachgetrauert. Weil es Pech war. Das hat man hinzunehmen. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn mir jemand mit Absicht den Finger abgehackt hätte. Dann kann man es nicht hinnehmen und muß alles daransetzen, daß derjenige bestraft wird; und wenn das nicht geschieht, ärgert man sich und ist sogar zornig, vielleicht ein Leben lang. Aber was rede ich! Was schweife ich ab! Die Geschichte mit dem Finger geht doch noch weiter, hör zu: Es hat sich als Glück erwiesen, daß ich ihn verloren habe, denn ohne den Zeigefinger konnte ich nicht, wie mir eigentlich vorherbestimmt, im Dorf ein Handwerk erlernen. Ich bin also in die Stadt gegangen und Magister geworden, Lehrer. Was war ich glücklich damals! Was waren das für Zeiten! Die besten Jahre! Jeder Tag ein Geschenk! Jede Minute ausgefüllt! Ich gehörte sogar zu den Magistern der ersten im Lande eröffneten Universität. Und wie vielen wißbegierigen jungen Studenten bin ich dort begegnet, wunderbar klugen, lebenslustigen Menschen wie zum Beispiel deiner Mutter und deinem Va-«
Antonio entfuhr ein schwarzer Laut, kein Wort, sondern ein dumpfer Ton, der aus den lichtlosen Eingeweiden seines schweren Leibes stammen mußte. Gomus spannte seinen unnützen Körper.
*
Die häßliche Auseinandersetzung mit Lingsohr wirkte in Matti noch nach, als er die »Barby« schon wieder übernommen hatte und mit ihr Richtung Brandenburg fuhr. Je länger die Tour aber dauerte und je weiter sie ihn aus dem stickigen Berlin herausführte, umso mehr besserte sich seine Laune. Es freute ihn zu sehen, daß die Landschaft an der Havel grün war und die Luft wenigstens halbwegs rein. Pappelflusen flogen ziellos herum wie in Tausende Teile zerrissene Wattebäusche und stimmten ihn milde; sie riefen jetzt bei ihm die gleiche beruhigende Wirkung hervor wie langsam fallende Schneeflocken im Winter. Reihen dunkelbrauner Schilfkolben standen ihm ehrerbietig Spalier, und er stellte sich mit Wonne vor, wie er einen der samtigen Stecken mit der Hand umschlösse und wie angenehm es dabei auf der Haut riesele. Vor allem jedoch konnte Matti es kaum erwarten, Britta wiederzusehen. Viel zu selten wollte es der Zufall, daß sie mit dem Zirkus gerade dort gastierte, wo er mit seinem Kahn vorbeischipperte – und heute, heute war das endlich wieder einmal der Fall. Er ließ den Motor mehrere Stunden mit voller Kraft laufen, um möglichst vor der Abendvorstellung bei ihr in der Stadt zu sein.
Tatsächlich langte er bei Britta an, noch bevor der alte Devantier seine berühmte Glocke läutete. Matti sah seine Schwester auf der Treppe ihres Wagens sitzen. Britta riß, kaum hatte sie ihn gewahrt, ihre Arme nach oben und flatterte mit den Händen. Als er herangelaufen war, stürzte sie sich geradezu auf ihn, so daß es in seiner Wirbelsäule knackte. Beide umarmten sich lange, als wären sie ein Liebespaar. Und ihre Zuneigung, die genossen sie um so mehr, da sie beide doch Fahrende waren, immer unterwegs. Es war für sie beruhigend und aufregend zugleich, sich in der Fremde in die Arme zu laufen, denn die Nähe, die sich dann sofort einstellte und die auch etwas von einem Einkapseln und Abschotten hatte, führte jedesmal dazu, daß sie sich Dinge erzählten, die sie gegenüber keinem anderen auch nur zu erwähnen wagten und über die sie wohl auch geschwiegen hätten, wenn sie einander in Gerberstedt begegnet wären oder in Mattis Ein-Raum-Wohnung in Berlin. Jawohl, die in der Fremde besonders gespürte geschwisterliche Zuneigung war’s, die ihnen die Zunge löste. Niemand wußte zum Beispiel über Brittas ebenso unstetes wie unschuldiges Liebesleben besser Bescheid als Matti. Niemand außer ihm wußte, daß sie sich, allem Anschein zum Trotz, nicht etwa schon ein dutzendmal verliebt hatte, sondern noch nie, und daß sie sich nichts sehnlicher wünschte, als einmal so richtig zu glühen und zu vergehen. Nur Britta wiederum wußte von Lydia, der einzigen Frau, der bisher das Kunsttück gelungen war, Matti vor der Torheit des unablässigen Vergleichens mit Karin Werth zu bewahren.
»Wie sieht sie aus, wie sieht sie aus, diese Dolmetscherin«, hatte Britta neugierig gefragt, nachdem er von seiner Jugendtourist-Reise aus Leningrad zurückgekommen war, für die er sich bei der
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