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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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vielleicht hat sie es dort mit der Angst bekommen und hat wieder rausgewollt und ist während ihrer Flucht über den jungen, noch ganz kleinen Herrn hinweg. Wenn es so war, dann muß ihm die Katze ähnlich groß und wild erschienen sein, wie uns ein Tiger erscheint. Aber wie gesagt, das muß alles nicht stimmen. Das ist vielleicht auch nicht mehr als eine Phantasterei.«
    Ich bedankte mich bei Vestis für die Auskünfte, und wir gingen wortlos zum Haus der blitzenden Sichel. Als Antonio mich gewahrte, sprang er von seiner Pritsche. In seinem Gesicht war nur ein Ausdruck: der aufrichtigster Freude und größter Erwartung. Gleichwohl verharrte er wie angewurzelt vor der Pritsche. Ich ging auf ihn zu und wagte, ihm über seine Haare zu streichen, was er heftig atmend, und ansonsten steif und starr, geschehen ließ. Dann setzte ich mich an den Tisch und bat auch ihn dorthin. Ich griff nach der Fibel in meinem Tornister. Aber als ich sie in der Hand spürte, überkam mich ein solcher Unwille, eine solche Abneigung gegen das Buch und gegen denjenigen, der es in Auftrag gegeben hatte, daß ich sie wieder losließ. Es war gegen Antonio geschrieben, nicht für ihn! Ich ahnte, ich würde mich nie dazu bereitfinden, es in seiner Gegenwart aufzuschlagen. Um aber Gomus, den ich für den Spitzel des Obersten hielt, in die Irre zu führen, sagte ich, mit der flachen Hand auf den Tornister schlagend, zu Antonio: »Weißt du, was ich hier drin habe? Ein Buch, ein Lesebuch. Aber ich denke, es ist noch ein wenig zu früh dafür, es zu benutzen. Ich werde es in der nächsten Zeit erst einmal bei mir zu Hause lassen.« Und tatsächlich schien Gomus die Ohren zu spitzen. Jedenfalls starrte er ein wenig zu gelangweilt an die Decke. Was allerdings Antonio angeht, so schien er nicht viel begriffen zu haben. Er glotzte mich mit einer Mischung aus Unverständnis, Demut, Hoffnung und sogar Frohsinn an, wie sie nur den gänzlich unerfahrenen Menschen eigen ist; und das war ein langer Blick, der mich schreckte, verdeutlichte er mir doch auf eindringlichste Art, in welcher Verantwortung Antonio gegenüber ich stand. Er mit seinem wahrhaft kindischen Gemüt setzte vollkommen auf mich, ich jedoch, ich wußte ja in diesem Moment nicht einmal, wie und was mit ihm reden. Ich ruckelte auf meinen Stuhl herum, entsann mich des gestrigen Tages, an dem ich einfach losgeplappert hatte, und begann noch einmal, ohne große Überlegung zu sprechen: »Antonio, Junge, wir kennen uns noch gar nicht. Ich schneie hier so herein, und du weißt gar nichts über mich, außer natürlich, daß ich Karandasch heiße, erinnerst du dich, Ka-ran-dasch? … Gut, sehr gut, du erinnerst dich. Dann erzähle ich dir jetzt weiter, hör nur zu. Ich, Karandasch, bin 63 Jahre, ziemlich alt schon, was? Du bist neun, Antonio. Neun. Das heißt, ich bin siebenmal älter als du, oder, anders gesagt, siebenmal so lange wie du lebe ich schon. Aber auch ich war natürlich mal neun. Ich erinnere mich an einen besonders kalten Winter, als ich neun war, oder zehn. Der Fluß, der uns hier umspült, war bestimmt vier Monate zugefroren, das sind vier mal mindestens 30 Tage, denn ein Monat, der hat 30 oder 31 Tage, aber was ich erzählen will, ist folgendes: Der Schmied des Dorfes, in dem ich großgeworden bin, hat mir und den anderen Kindern schmale scharfe Eisen angefertigt, die wir dann an Holzstreben befestigt haben, und die Holzstreben, die wurden an die Schuhsohlen genagelt, und das war dann ein Gestell, mit dem wir auf dem Eis gleiten konnten. Ein paar Tage später fanden wir einen alten löchrigen Filzhut. Den knüllten wir und banden ihn mit Hanf zusammen, und dann suchten wir gekrümmte Äste, daran war ja kein Mangel am Ufer, und dann trieben wir, mit unseren Gestellen auf dem Eis viel schneller laufend, als es selbst dem Schnellsten an Land möglich ist, die Filzkugel vor uns her. Bald bildeten wir zwei Gruppen, die sich mit den Knüppeln um sie rauften, tja, und dabei ist es passiert, hier, schau: Ein Finger fehlt mir, der Zeigefinger ist das, Zeigefinger, weil man mit ihm auf Dinge und Menschen zeigt. Unglücklicherweise ist es auch noch meine rechte Hand und nicht die linke. Und jetzt willst du bestimmt wissen, was passiert ist, nicht? Ich bin während des Raufens gestürzt, und jemand war gerade in Schwung und konnte nicht mehr bremsen und ist mit seinem Eisenmesser über meinen Finger gefahren. Der Finger ist zwei oder drei Meter auf dem Eis weggeschlittert wie ein fortgeworfenes

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