Brüder und Schwestern
Sie selber legen sich doch jeden Tag eigenhändig ihre Scheuklappen an, und dafür muß man sie auch verachten …«
»Schluß jetzt«, unterbrach Erik ihn, »Schluß mit dieser endlosen Suada! Grotesk, ja? Grotesk ist es, wie du Carla beleidigst! Wie du sie beschimpfst! Dafür, was du ihr alles an den Kopf geworfen hast, wirst du dich entschuldigen! Entschuldige dich bei ihr, auf der Stelle, da brauchst du gar nicht so zu gucken – ich fordere es von dir!«
Aber Matti guckte weiter so, perplex, denn er hatte sich in eine umfassende Erregung hineingesteigert, hatte seinem schon lange schwelenden Zorn Luft gemacht und darüber Carla als Person beinahe vergessen. Außerdem wunderte er sich doch sehr über die Forsche, die Erik jetzt an den Tag legte. Er sann nach, ob er Carla, und damit Erik, tatsächlich beleidigt hatte, und kam zu dem Schluß, das könne nie und nimmer geschehen sein. Meistens hatte er nicht einmal namentlich von ihr, sondern ganz allgemein von »man« und »den Menschen« gesprochen. Und so sagte er, an beide gewandt: »Alles, was ich eben gesagt habe, ist tausendfach belegt und würde von anderen Lesern wahrscheinlich noch viel drastischer formuliert werden. Wenn ihr euch also beleidigt fühlt, dann liegt es an euch selber, nicht an mir. Ich habe kein Wort zurückzunehmen, keines. Und schon gar nicht hier. Wie komme ich denn dazu? Ich entschuldige mich doch nicht dafür, hier ehrlich geredet zu haben.«
Und das war das letzte Wort, das zwischen den Brüdern fiel, bis, ein Jahr später, ein dramatisches Ereignis sie dazu zwingen sollte, sich wenigstens notdürftig wieder miteinander auszutauschen.
*
Erst einmal wurde aber das Kind geboren, ein Junge war das, der bekam den Namen Wiktor, denn Wiktor Werchow, war das nicht ein Singen und Klingen, eine einzige herrliche Melodie?
Erik feierte das Ereignis mit seinem Freund Weißfinger in einer Stampe in Karlshorst, die er, obgleich er nahebei wohnte, noch niemals betreten hatte. Aber heute mußte es sein, ihm war nach Bier und Korn, nach irgendeiner Art von Exzeß, er kippte das Zeug so schnell und so freudestrahlend herunter, daß Weißfinger kaum hinterherkam und sich, halb interessiert und halb spöttisch, erkundigte, ob Erik ausgerechnet jetzt jedes Verantwortungsgefühl verloren habe.
Erik überlegte eine Weile und erklärte dann lächelnd: »In gewisser Weise hast du recht. Ich habe heute kein Verantwortungsgefühl, ich sonne mich, weil etwas zum Abschluß gekommen ist – du guckst, als wäre ich verrückt, du denkst dir, es fängt doch gerade etwas an, was ist denn so eine Geburt, wenn nicht ein Beginn, stimmt’s?«
Weißfinger, gewohnt, selber mit gedanklichen Volten aufzuwarten, zog leicht pikiert die Schultern nach oben; es gefiel ihm vielleicht weniger, an den Lippen eines anderen hängen zu müssen.
»Aber ich sage dir, mit der Geburt ist etwas vollendet, und daß es vollendet ist, macht mich gelassen. Ich fühle mich unantastbar, so habe ich mich noch nie gefühlt. Noch vor Stunden war es mir undenkbar. Aber jetzt ist Wiktor da, und ich komme mir vor, als hätte ich meine wichtigste Aufgabe erfüllt. Ach was, ich komme mir vor? Ich weiß es. Er wird mich überleben, bis vorhin ist das keine Dimension für mich gewesen, aber jetzt ist es die einzige, die alles überstrahlende. Um es mal so zu sagen: Ich habe meinen Beitrag dazu geleistet, daß es nach mir weitergeht hier auf diesem Planeten.«
»Puh«, machte Weißfinger.
Erik aber schien ganz in der neuen Dimension aufzugehen: »Ich könnte jetzt sogar abtreten. Von der Bildfläche verschwinden. Das wäre natürlich nicht gut für Wiktor und Carla, das wäre grauenhaft für sie, und es wird ja hoffentlich auch nicht dazu kommen, es geht mir nur um meine Stellung im Weltengefüge, ich bin jetzt eingebunden in einen größeren Zusammenhang …«
»Das sind Worte«, warf Weißfinger ein.
»Wie solltest du sie auch verstehen. Es ist unmöglich für dich, denn du bist noch nicht Vater. Ich habe ja bis gestern genauso über die jungen Väter gelächelt wie du jetzt – wobei natürlich noch ein Unterschied zwischen ihnen und mir besteht. Sie reden alle von größerer Vorsicht und von Fürsorge, das Neugeborene wirkt irgendwie beschwerend bei ihnen. Für mich ist aber die Fürsorge ganz selbstverständlich, sie ist mir gar keinen Gedanken wert, da schwebe ich locker drüber.«
So wie Weißfinger ihn anguckte, so verblüfft, und so wie er selber schon gebechert hatte, ließ Erik
Weitere Kostenlose Bücher