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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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bekommen, das ist unvermeidlich, die Entwicklung ist längst im Gange, ich habe sie genau verfolgt. Bis gestern hielt ich es nur für möglich und nicht für wahrscheinlich, daß es so kommt, aber seit gestern – bin ich felsenfest davon überzeugt.«
    Und abermals Stille. Das war nun eine Aussage, der Erik nicht einmal mit dem Verstand folgen konnte, eine Aussage, die wohl darauf zurückzuführen war, daß Weißfinger, irrsinnig beeindruckt von seinem Erlebnis, sich in eine Art Fieber hineingesteigert hatte oder sogar in ein Delirium, und daß er vor seinem geistigen Auge die aberwitzigsten Dinge sah.
    *
    Delirium? Damit endete der Abend. Die beiden Freunde fielen sich zum Abschied vor der Kneipe in die Arme und kamen eine Weile gar nicht mehr voneinander los, sie wollten schon, aber sie konnten nicht, wie ineinander verkeilte kraftlose Ringer wankten sie hin und her. Dann schlingerte jeder in Richtung Heimat. Erik kannte die Straßen hier natürlich aus dem Effeff, doch waren sie unbeleuchtet, wie auch seine Birne gar nicht mehr funktionierte, kurzum, plötzlich stolperte er über den in der Dunkelheit verborgenen starren Rüssel einer Anhängerkupplung und stürzte mit dem Kinn auf die Bordsteinkante. So lang und so tief wurde ihm das Fleisch gespalten, daß man glatt zwei oder drei Streichhölzer in der entstandenen Fuge hätte ablegen können. Beim Hochrappeln besprenkelte er das Straßenpflaster unfreiwillig kunstvoll mit einem nicht enden wollenden tiefroten Strahl. Tropfend wie ein undichter Waserhahn wankte er zurück zur nun schon geschlossenen Destille. Er wummerte den reinemachenden Wirt raus und kriegte von dem eine Rolle Klopapier, die er sich unters Kinn hielt und die im Nu durchweichte, jedenfalls bis zur Hälfte. Tapfer seinen Kiefer hochdrückend, erbat er sich eine Taxe; und als sie endlich eingetroffen war, wünschte er, in ein ganz bestimmtes Krankenhaus gefahren zu werden; nur dieses und kein anderes war ihm eingefallen, denn in diesem war er, wenn er sich recht erinnerte, heute oder gestern oder wann auch immer doch erst gewesen, da lag wohl wer, ja die Carla lag da und der Wiktor der Wurm, das war schon ein bißchen komisch, daß er selber nun gleich wieder dazukommen würde zu den beiden.
    Am folgenden Morgen verschlief Erik, das war ihm noch nie passiert. Er hatte auch einen fürchterlichen Kater. Während er sich wusch, versuchte er sich zu entsinnen, was eigentlich geschehen war, und seltsamerweise tauchte zuerst das Bild der Mauer, wie Weißfinger es geschildert hatte, in ihm auf; oder auch nicht seltsamerweise, denn während jenes Berichts seines Freundes war er ja noch halbwegs nüchtern gewesen. Plötzlich schoß ihm eine Idee durch den Kopf: Wie wäre es eigentlich, wenn man ein paar Westfirmen offerierte, an von ihrer Seite aus einsehbaren Gebäuden des Ostens Werbeplakate anzubringen? Wie wäre denn das! Zwar hatte Weißfinger von Beton gesprochen, der »bis in den Himmel« reiche und ihm die Sicht versperrt habe, aber zweifelsohne war das nur deshalb seine Perspektive gewesen, weil er seine neugiererhitzte Wange direkt an die Mauer gelegt und dann an dieser hochgeschaut hatte. Wer sonst tat das schon? Die Westberliner, sie betrachteten das Bauwerk gewöhnlich aus größerer Entfernung, und daher würden sie manchen unmittelbar dahinter befindlichen Giebel bestimmt gut erkennen können und manches Dach erst recht.
    Mit diesen optimistischen Gedanken fuhr Erik in die Tucholskystraße. Es war nun schon Mittag, er würde sich entschuldigen müssen bei Kutzmutz, der ihm sowieso schon distanziert begegnete; exakt einen Tag nach der Zusammenkunft mit dem mächtigen Lütt hatte der Abteilungsleiter begonnen, sich ihm gegenüber gar nicht mehr so freundlich zu zeigen. Erik erhielt ja kaum noch einen Gruß! Er würde es also bedauern, heute ein wenig spät zu sein, aber gleich anschließend würde er seine Idee vorbringen, und dann wollte er mal sehen, wie Kutzmutz reagierte.
    In dessen Zimmer stehend, erzählte er etwas von Kindsgeburt und Feier und Unfall, aber weder gratulierte Kutzmutz, noch bekundete er dem sichtlich Ramponierten irgendwelches Mitleid; »schon gut«, damit wollte er Erik wieder hinausschicken.
    »Bitte, ich hätte da noch was, einen Einfall, der mir … der mir gleich nach dem Aufwachen gekommen ist.«
    Der Abteilungsleiter fragte in stummer Ablehnung, was das für ein Einfall sein solle.
    »In dem größten Tohuwabohu hat der Mensch die besten Ideen … manchmal«,

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