Brüder und Schwestern
entgegengebracht habe, und einem Pendel gleich, das ebenso stark, wie es in die eine Richtung schwang, nun in die andere Richtung schwingen muß, werde ich arrogant und abschätzig meinen bisherigen Freunden in Uniform gegenüber. Hombre, mir ist schon klar, das alles muß dir, der du noch nie dort unten gewesen bist, wohlfeil erscheinen. Weißfinger, wirst du denken, darf da einfach so durch, und hinterher fängt er noch an zu jammern und sich zu beklagen. Aber wem soll ich es erzählen, wenn nicht dir?«
Weißfinger machte eine Pause und sah Erik an. Erik nickte.
»Gut, jetzt kommt auch schon das Eigentliche, wovon ich dir berichten will. Warum habe ich nämlich still und leise meine Reise unterbrochen? Schlicht und ergreifend darum, weil ich mich einmal auf die andere Seite des Brandenburger Tores stellen wollte. Nur das hat mich interessiert in Westberlin. Ich hätte ja auch auf den Kudamm gehen können, so wie alle, aber es erschien mir reizlos im Vergleich zu der Möglichkeit, von außen einen Blick auf unsere Welt werfen zu dürfen. Du wirst jetzt vielleicht sagen, Eschborn sei noch viel weiter draußen, und erst Nicaragua, aber das trifft es nicht. Es geht um den direkten Blick auf das Eigene – und ich sage dir, ein bestürzender Blick ist das gewesen. Aber ich will nicht vorgreifen, sondern dich weiter mitnehmen, sozusagen. Ich komme also von der anderen Seite aufs Brandenburger Tor zu, und natürlich komme ich viel näher an die Mauer ran als gewohnt. Von uns aus betrachtet wirkt sie ja gar nicht so groß. Weil wir immer ein erhebliches Stück von ihr entfernt bleiben müssen und sie für uns überhaupt nicht richtig einsehbar ist. Und mit diesem Entfernten und dadurch Verkleinerten sind wir aufgewachsen, einen anderen Blick hatten wir nicht. Nun aber, nun wird die Mauer mit jedem Schritt, den ich zu ihr hin mache, größer und mächtiger. Am Ende versperrt sie mir beinahe vollständig den Blick auf Ostberlin. Unsere Stadt ist dahinter verschwunden, ist wie nicht existent. Nur das Hochhaus der Charité ragt darüber hinaus, aber auch nur die obere Hälfte. In diesem Moment habe ich das erste Mal wahrhaft gespürt, wie eingesperrt wir sind. Klar gewesen war es mir natürlich schon lange zuvor. Und der Westen wird ja auch nicht müde, es einem beizubringen. Aber das ist so an mir vorbeigerauscht, was der geredet hat, weil das von ihm alles nicht absichtslos geschah. Immer habe ich es instinktiv abgewehrt, als Teil einer Ideologie, mit der man uns beeinflussen will. Und es ist ja auch Ideologie. Aber gleichzeitig ist es vollkommen natürlich und notwendig, diese Mauer zu verabscheuen, wenn man sie direkt vor der Nase hat, das wurde mir vorgestern so richtig klar. Erst vorgestern! Erst als ich sie als Bauwerk in ihrer ganzen Gewaltigkeit und Gewaltsamkeit erkennen konnte. Ich sage dir, man muß radikal dagegen sein, wenn man direkt davorsteht. Es zerfetzt einem alle Gewohnheit, es zerstört einem das letzte Verständnis. Weißt du was? Schräg vor dem Brandenburger Tor, da ist dieses Podest, von dem aus Reagan Gorbi aufgefordert hat, die Mauer niederzureißen. Die ersten Touristen erschienen und bestiegen es, und ich war schon drauf und dran, es ihnen nachzutun, aber dann habe ich es doch bleibenlassen. Es hätte meinem Blick, der ja ein Nicht-Blick gewesen ist, ein Blick auf Beton bis beinahe zum Himmel rauf, das Einprägsame genommen. Ich wäre ja von diesem erhöhten Standort aus mir nichts dir nichts in der Lage gewesen, über die Mauer zu sehen – und das wäre ein Trugbild gewesen. Es ist ein Trugschluß zu glauben, man könne über sie hinweg. Nein, hombre, das Erschütternde und Alarmierende, das habe ich mir nicht mehr nehmen lassen durch dieses dämliche Podest.«
Weißfinger hatte leuchtende Augen, so mitgerissen war er von sich selber und seinen Erkenntnissen. Aber jetzt konnte Erik alles nur hinnehmen und vielleicht mit dem Verstand begreifen, mit dem Gefühl folgen konnte er nicht. Daher trat wieder Stille ein. Schließlich fragte er: »Und du warst dann tatsächlich nirgendwo anders mehr vor der Weiterfahrt?«
»Noch kurz an der Gedächtniskirche. Da herrschte schon Gewimmel. Gegenüber hatte gerade ein Eisladen aufgemacht, so ein großer …«
Er unterbrach sich, schaute Erik an und erklärte mit bedeutender Miene: »In spätestens fünf Jahren wirst du mit deinem Wiktor dort Eis essen gehen, denk an meine Worte! Und nicht nur du! Alle werden es, denn jeder muß und wird einen Paß
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