Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
Vom Netzwerk:
sich dazu hinreißen, den Schädel des Freundes mit beiden Händen zu umfassen und ihm einen nassen Schmatzer auf die Stirn zu drücken.
    Weißfinger machte Anstalten, sich über die feuchte Stelle zu fahren, unterließ es dann jedoch.
    So viel hatte Erik wiederum noch nicht getrunken, als daß er jene kurze Bewegung übersehen hätte. Es machte ihm nichts aus in seinem Glück, es zeigte ihm nur, daß es nun wohl genug war mit dem Schwelgen. »Na«, rief er, noch immer strahlend, »ich will dich nicht länger zulabern.«
    Weißfinger erklärte, es sei vollkommen in Ordnung.
    Beide schwiegen und tranken. Nachdem sie die Gläser abgesetzt hatten, guckte Weißfinger aber eindeutig so, als wolle er gefragt werden, ob’s was Neues auch bei ihm gäbe, und Erik fragte ihn
    »Ist unwichtig, was bei mir passiert ist, hombre. Ist wirklich nicht der Rede wert, vergleichsweise.«
    Nachdem er derart drängend untertrieben hatte, wurde er von Erik nochmals gebeten zu erzählen, da gab er endlich nach. Und wie um sich schadlos zu halten, holte er weit, ganz weit aus. Er erinnerte an seine Dienstreise nach Nicaragua, die Berichte seien ja mittlerweile in der Zeitung veröffentlicht, nun, und außerdem habe er noch etwas bislang Unveröffentlichtes mitgebracht, einen halben Bericht: Dort unten sei ihm nämlich zu Ohren gekommen, daß mit dem Bau diverser Anlagen beschäftigte westdeutsche Firmen mitten in der Arbeit ihre Zelte hatten abbrechen müssen, weil den Sandinisten von Bonn plötzlich alle Entwicklungshilfe gestrichen worden sei. Die Kohle aus dem Westen gehe statt dessen zum Menschenunterdrücker Duarte nach El Salvador.
    »Typisch«, warf Erik ein. »Und weiter?«
    »Und weiter ist es so, daß eine der betroffenen Firmen ihren Sitz in Eschborn hat, das liegt bei Frankfurt am Main – und ich gerade gestern von dort zurückgekommen bin.« Er griff nach seinem Bierglas und fügte hinzu: »Um meinen Bericht rund zu kriegen, war ich also da.«
    »Na so was«, entfuhr es Erik, »von wegen unwichtig …«
    Weißfinger trank sein Bier aus und bestellte neu, er machte keine Anstalten, weiterzureden.
    »Ja und, was hast du erlebt? Wie hast du dich gefühlt, das erste Mal dort in Westdeutschland?«
    » Darüber gibt’s gar nicht so viel zu erzählen, wirklich nicht.«
    »Und worüber dann?« Erik wurde leicht unwirsch, was sollte auch dieses ewige Geziere?
    »Mein Zug ging vom Bahnhof Friedrichstraße ab um 7 Uhr 30«, erklärte nun Weißfinger, »aber von Bahnhof Zoo weitergefahren bin ich erst um 10 Uhr, und zwar mit einem der nächsten Züge. Was dazwischen geschehen ist, und vor allem, was ich dazwischen gedacht habe, das ist viel interessanter. Wie schon gesagt, ich will es nicht vergleichen mit deinen Gefühlen, es ist eine völlig andere Sache, aber auch bei mir hat sich ziemlich unerwartet eine neue Sicht ergeben.« Er schaute jetzt aufgewühlt, er war wohl in seine frischen Erlebnisse versponnen, er begann in aller Ausführlichkeit von seinem zweieinhalbstündigen Intermezzo zu erzählen: »Erstmal eine Bemerkung zur Paßkontrolle da am Grenzübergang. Man muß ja durch ein wahres Labyrinth, ehe man zu ihr gelangt, und alles unter Tage, im künstlichen Licht. Um mich rum sind fast nur Rentner, das war mir vorher klar gewesen, daß es so sein würde, aber dann erscheint es mir doch seltsam. Hinzu kommt jetzt aber etwas, wovon ich nichts gewußt hatte. Die Rentner stehen alle in einer Reihe und werden von den Grenzern nichtswürdig behandelt, wohingegen ich, der Dienstreisende, an einen Extraschalter darf. Und dort verhält man sich mir gegenüber ausnehmend freundlich, ich möchte sogar sagen, verschwörerisch. Kannst du den Zwiespalt nachvollziehen, in dem ich deswegen bin? Einerseits spüre ich die Ungerechtigkeit, die in dieser Spaltung liegt, sie widert mich geradezu an. Daß nicht nur beim Aussieben weit vor der Grenze, sondern selbst noch bei ihrem Passieren solche Unterschiede gemacht werden. Andererseits aber, andererseits fühle ich mich durchaus stolz, weil man mich zuvorkommend behandelt. Ich spüre regelrecht, wie ich mich korrumpieren lasse, ich kann mir zusehen dabei. Wie ich sogar hochnäsig zu den Rentnern sehe, genauso abschätzig, als wäre ich einer ihrer Kontrolleure. Nun ist es aber so, daß ein paar der alten Leutchen wütend meinen Blick erwidern, ganz klar, sie sehen in mir einen Knecht des Systems. Und das bin ich doch auch, nicht? Auf einmal hasse ich mich für die Arroganz, die ich ihnen

Weitere Kostenlose Bücher