Brüder und Schwestern
müßte es so sein. Aber du hast keine solchen Fragen gestellt, du hast die negativen Sachen, und es gibt noch viel mehr davon, viel mehr, lieber nicht wissen wollen, stimmt’s?«
»Was nimmst du dir eigentlich heraus!« schrie plötzlich Erik. »Willst du hier den Inquisitor spielen? Macht es dir Spaß, auf Carla herumzuhacken? Ich schlage vor, du hältst jetzt einfach mal den Mund!« Haßerfüllt schaute er Matti an, nein, er war nicht gewillt, von seinem Bruder noch Moralvorschriften entgegenzunehmen, nicht mehr, seit er der Firma voller Mut einen Korb gegeben hatte und längst was Eigenes aufweisen konnte in Sachen Renitenz.
Ruth nickte, während Willy nur die Lippen aufeinanderpreßte. Die ganze Zeit hatte er geschwiegen, wohl in der Hoffnung, die Geschwister würden sich des Anlasses der Zusammenkunft erinnern und Ruhe geben.
Matti aber war außer sich. »Du willst mir den Mund verbieten? In unserem Elternhaus wagst du es, mir zu verbieten, daß ich mich äußere?«
Jetzt mußte sich Willy doch zu Wort melden, leise sagte er: »Nicht immer muß man alles sagen, was einem auf der Seele liegt, Matti. Und nicht jedem und jeder gegenüber.«
Matti nickte. »Ich verstehe, was du mir damit bedeuten willst. Aber ich bitte dich, auch mich zu verstehen, und alle anderen bitte ich auch. Denn wie ist die Situation? Draußen schwirren nur noch Phrasen und Parolen durch die Luft. Nie wird die Wahrheit geschrieben oder gesprochen. Ich ertrage das nur noch mit Mühe. Ich reiße mich zusammen, weil man sich zusammenreißen muß – draußen. Hier aber sind wir drinnen, und hier hat bisher noch nie einer dem anderen das Wort abgeschnitten. Jeder hat es ausgehalten, wenn er vom anderen kritisiert worden ist. Und das soll auf einmal nicht mehr gelten? Im Haus soll es genauso zugehen wie außerhalb? Niemals! Also laßt mich zu Ende führen, womit ich angefangen habe, ich war stehengeblieben bei dem Nicht-erfahren-Wollen. Manche Menschen haben einfach panische Angst davor, mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert zu werden. Denn was würde eine solche Konfrontation für sie bedeuten? Daß sie fortan diese Wahrheit nicht mehr negieren könnten, ohne ein schlechtes Gewissen zu kriegen. Aber weil sie natürlich kein schlechtes Gewissen kriegen wollen – schauen sie bestimmten Wahrheiten erst gar nicht ins Auge. Eine treffliche Vorsichtsmaßnahme, aber auch ein Instinkt: Sie haben ein feines Sensorium entwickelt, das ihnen hilft, jeder anstößigen Erfahrung auszuweichen. Und am Ende, am Ende meinen sie allen Ernstes, sie besäßen eine reine Seele! Zynischerweise würde ich sagen, der Mensch muß einer unangenehmen Wahrheit nur ganz fernbleiben, dann geht’s ihm richtig, richtig gut. Aber ich will nicht zynisch werden, und ich will auch endlich auf Klingenberg zurückkommen. Wie man sieht, hat dort die Vorsichtsmaßnahme nahezu perfekt gegriffen. Jemand hätte sich am unwirtlichen Ort des Geschehens zwar am liebsten ein Tuch um den Mund gebunden, denn er erlitt eine heftige Attacke der grausamen Wirklichkeit auf seinen Körper, aber die hat er abzuwehren und beim Schreiben schnell wieder zu vergessen gewußt. Nur – derartig vergessend zu schreiben, bedeutet nichts anderes, als Stuß zu schreiben … nein, du läßt mich ausreden, Erik, du läßt mich ausreden. Ich würde ohne weiteres verstehen, wenn jemand was Klares und Wahres verfaßte und dann damit an irgendeiner der Instanzen, ich kenne sie nicht im einzelnen, abprallte, wenn er also nicht gedruckt würde und sich darüber grämte und am Ende doch stillhielte. Dann hätte er es wenigstens versucht, und mehr kann man gar nicht verlangen. Aber es nicht zu versuchen, heißt automatisch, die Leser, die alles am eigenen Leib erfahren, für dumm verkaufen zu wollen. Und das geschieht ständig! Längst sind doch die Leser tausendmal klüger als die Zeitungen. Und dazu gehört von ihrer Seite gar nicht mal viel. Die Schreiber nämlich, wie weltfremd verhalten sie sich? Weltfremder als jedes alte einsame Weib! Sie begreifen gar nicht, wie lächerlich sie sich mit ihren Artikeln machen. Man muß sie bedauern dafür, wie sie vor jeder Wahrheit davonrennen, die sie verstören könnte, wie sie ihre ganze schäbige Kraft verwenden, um vor der Realität zu flüchten – aber nicht nur bedauern, nicht nur! Denn anders als die alten Weiber, an denen die Jahre genagt haben und die vielleicht nicht mehr ganz bei Verstand sind, tragen sie die volle Verantwortung für ihr groteskes Tun.
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