Brüder und Schwestern
verknotete die Finger. Er zwang sich, von einem zum anderen zu schauen, holte hörbar Luft und fing an zu reden: »Ihr wißt, eure Mutter ist tot. Es ist geschehen … ist geschehen gestern um diese Zeit, ziemlich genau zu der Stunde, da wir jetzt hier sitzen, und noch eine Stunde zuvor konnte niemand ahnen …« Willy stockte schon nach diesen wenigen Worten. Er merkte, wie all die widerstreitenden Tatsachen, Ansprüche und Verbote, die um diesen Tod waren, ihn erdrückten. Wollte er Ruth nicht Recht widerfahren lassen? Das war er ihr schuldig. Aber er konnte sich dabei doch nicht selber an den Pranger stellen! Er durfte, schon weil Ruth ihm einen entsprechenden Auftrag hinterlassen hatte, keineswegs mit der ganzen Wahrheit herausrücken – was nun aber noch lange nicht hieß, daß er schamlos lügen durfte. Im Rahmen meiner Möglichkeiten, sagte er sich, muß ich unbedingt wahrhaftig sein. Aber ist es denn wahrhaftig zu erklären, noch eine Stunde vor der Tat habe niemand etwas ahnen können? Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich doch eine solche Ahnung schon eine Weile gehabt. Es ist mir bewußt gewesen, daß etwas Katastrophales geschehen könnte, auch deshalb wollte ich doch wieder vollends zurück zu Ruth. Um es nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Um sie zu schützen und uns allen zu bewahren. Auch deshalb? Wenn ich ganz ehrlich bin, nur deshalb, es war das Anerkennen einer Pflicht. Oder habe ich Ruth etwa noch geliebt? Nein, schon lange nicht mehr.
Willy korrigierte sich: »… niemand konnte wissen , was geschehen würde, es gab keine richtige Andeutung. Trotzdem ist es geschehen, trotzdem – hat eure Mutter Selbstmord begangen.«
»Was?« rief Britta. Matti stöhnte auf, Erik schlug die Hände vors Gesicht.
»Sie ist von einem Hochhaus gesprungen. Sie ist dafür extra nach Berlin gefahren.« Willy war nahe dran hinzuzufügen, in Gerberstedt stünden ja keine Hochhäuser, aber im Bemühen, ehrlich zu sein und keinen falschen Zungenschlag zu tun, verzichtete er darauf, denn daß Ruth auch von einem Hochhaus in einer beliebigen anderen Stadt gesprungen wäre – das stimmte doch nicht.
Erik nahm seine Hände so weit vom Gesicht, daß er Willy wieder sehen konnte, und fragte: »War sie sofort tot?«
Willy nickte. »Es waren elf Stockwerke.«
Alle schwiegen, schießlich fragte wieder Erik: »Aber warum? War sie schwer krank, und wir wußten es nicht? Hatte sie unerträgliche Schmerzen, hat sie uns vielleicht etwas verheimlicht? Was ist es gewesen? Was hat sie uns denn verheimlicht?« Die Fragen waren regelrecht aus ihm herausgebrochen, und nun schaute er Willy gequält und wie bettelnd an.
Willy schluckte, Matti aber fiel auf einmal eine schon ewig zurückliegende Episode ein: Er kommt ins Bad, und da ist schon Ruth, aber sie bemerkt ihn nicht, sie greift in den Toilettenabfluß, ganz tief, bis zum Ellenbogen fast, als wolle sie mit ihrer Hand die Kanalisation erkunden, als wolle sie Fäkalien kneten. Mein Ring, mein Ring, schreit sie, mein Ehering, weg, weg. Sie fällt in ein Wimmern, alles kaputt, mein Ring, mein Ring, alles tot. Sie schlägt mit der Stirn auf die emaillierte Klosettumrandung, und nochmal, und nochmal, sie legt endlich, unendlich erschöpft, ihr Gesicht auf die Umrandung, die sie ursprünglich wohl nur hatte säubern wollen, sie gewahrt ihn, Matti, starrt ihn aus glasigen Augen an, den Augen eines verwundeten Tieres, das ahnt, es muß sterben, sie sagt kein Wort zu ihm und geht raus aus dem Bad, aber am nächsten Tag zerfließt sie beinahe vor Zärtlichkeit ihm gegenüber, und damit schreckt sie ihn ab, erst damit, denn ihre Zärtlichkeit hat gar nichts Sicheres mehr, nichts ihn Wärmendes, sie ist ihm sogar peinlich, seine Mutter, und er stößt sie fort in Gedanken, er muß sich wehren gegen sie, weil sie so besitzergreifend ist, was will sie denn eigentlich von ihm?
Und war das überhaupt ein Einzelfall gewesen? Sie hatte doch noch manches andere Mal die Kontrolle über sich verloren, und danach hatte sie jedesmal eines der Kinder oder alle zusammen mit ihrer Liebe bestürmt, einer Liebe, die zumindest er um so weniger erwidern konnte, je mehr sie auf irgend etwas folgte, je mehr und je dringlicher sie herausschoß, anstatt wie früher einfach immer ganz ruhig dazusein.
Ruth, dachte er, mußte sich oft schlecht gefühlt haben, aber warum? Wegen Willy? Die beiden hatten sich doch nicht häufiger und nicht heftiger gestritten, als andere Ehepaare es tun, jedenfalls, solange Matti
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