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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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wohl sein lassen. Er kriegte Reizstrom und Schlammpackungen und hatte durchaus das Gefühl, als wiche der Schmerz langsam aus seiner ramponierten Wirbelsäule. Allerdings war er ganz und gar nicht bereit, diesem Gefühl ohne weiteres zu trauen. Hatte er in der letzten Zeit nicht schon zu viele Rückfälle erlebt? Hatte er sich nicht schon mehrmals zu früh, viel zu früh wieder in die Truppe einreihen müssen? So behielt er seine Erleichterung lieber für sich und schleppte sich mit traurigem Gesichtsausdruck von Behandlung zu Behandlung. Beinahe eingegraben war ihm diese Miene jetzt schon. Der eigentliche Grund aber, warum er sie nicht zu schnell aufgeben mochte, lag darin, daß nach Auskunft der Ärzte eine prinzipielle Entscheidung darüber, wie man weiter mit ihm verfahren würde, unmittelbar bevorstand. Ein Mediziner hatte ihm gegenüber sogar angedeutet, eine vorfristige Entlassung aus der NVA sei möglich. Wenn man das hier also schon munkelte – warum sollte er sich dann gesünder und glücklicher zeigen, als er war, warum sollte er in voreiliger Freude eine Entscheidung provozieren, die sich als grundverkehrt erweisen und sein Leben noch viel zu lange negativ beeinträchtigen würde?
    Die Medizinerkommission der NVA beratschlagte turnusgemäß an einem Mittwoch im Dezember. Es war schon voll im Wartezimmer, als Erik dort eintrat, und es herrschte angespanntes Schweigen. Jeder war mit sich beschäftigt. Ein Soldat verharrte, Hals und Oberkörper eingegipst, regungslos in einem Rollstuhl, ein zweiter trug eine Augenbinde. Als Erik, unaufdringlich, wie er meinte, diesen ansah, riß der sich in einem plötzlichen Anfall von Wut die Binde herunter, und Erik blickte in eine augenleere, blutunterlaufene, eitergefüllte Höhle. Voller Ekel wandte er sich ab. Doch sogar dieser Vorgang war wortlos vonstatten gegangen. Eine Stimme ertönte erst, als eine Schwester jemanden hereinschob, dessen Gesicht eine einzige Brandwunde war, ein bizarres rosanes Gefalte und Genarbe. Aus der Wunde summte etwas, das sich, wenn auch nur entfernt, anhörte wie die Melodie der Moorsoldaten . Und dieses Summen wollte und wollte nicht enden.
    »Halt’s Maul«, rief plötzlich, ohne sich zu regen, der Eingegipste.
    Das Summen erstarb, aber nur für zwei oder drei Sekunden, dann setzte es erneut ein. Diesmal handelte es sich, wenn nicht alles täuschte, um die Melodie von Brüder seht die rote Fahne .
    »Halt’s Maul, sag ich!«
    »Srrrz«, zischte die Wunde.
    »Sagtest du Sprutz?« Der Eingegipste, der davon ausging, soeben als Soldat des 1. Diensthalbjahres verunglimpft worden zu sein, klang so wütend, als wolle er sich auf den Neuankömmling stürzen, doch dadurch hob er seine Unbeweglichkeit nur noch deutlicher hervor.
    Der Verbrannte versuchte zu lächeln, und sein Gesicht bekam einen noch schrecklicheren Ausdruck.
    »Sag das nochmal!«
    »Srrrz«, zischte es.
    »Du bist ein verdammter Sprutz«, raste der Eingegipste, »du hast noch mehr Tage als ’n Wildschwein Borsten auf’m Rücken, du – du Narbenschwein.«
    Statt einer Antwort summte es schon wieder, aber niemand vermochte zu erraten, welche Melodie das jetzt sein sollte, denn nach den ersten, stoßweise vorgetragenen, auf einen Parademarsch hindeutenden Tönen schaltete sich der mit der Augenbinde ein. »Ruhe«, flüsterte er auf eine schneidende, einschüchternde Art. »Seid ihr denn alle bescheuert? Idioten, geht’s euch noch zu gut, ja? Diese ganzen Diskussionen sind so unwichtig wie die Eier vom Papst.« Leiser und schneidender noch wiederholte er: »Ruhe hier!«
    Und es ward Ruhe. Dem armen Erik aber schlug in der Stille das Herz bis zum Halse. Auf seiner Unteroffiziersschule war er doch von derartigen Scharmützeln verschont geblieben, jawohl, davon, wie es bei den Anderthalbjährigen zuging, hatte er keinen blassen Schimmer. Und er wollte davon auch gar nichts wissen. Nichts wollte er damit zu tun haben! Er bekämpfte seine aufgekommene Angst, indem er sich auf seinem Holzstuhl darauf konzentrierte, noch einmal den Schmerz in seinem Rücken aufzuspüren, den süßen Schmerz, der ihn doch in seine angestammte Welt zurückführen mußte, noch an diesem Tage.
    Der Raum, in dem die Kommission tagte, erwies sich als ein Zwischending zwischen Gerichtssaal, Parteibüro, Klassenzimmer und Arztpraxis. Auf einem Podest saßen hinter einem langen, mit rotem Tuch bespannten Tisch sechs uniformierte Mediziner. Am Leuchtkasten hinter ihnen waren Eriks Röntgenbilder angebracht.

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