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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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er aus dem Gleichgewicht gebracht wegen der Schläge? Aber er hatte im Eifer seines Anbandelns mit Britta auch schon so einiges getrunken, fünf oder sechs Gläser Rotwein, sie schienen sich langsam bemerkbar zu machen. Kaum saß er wieder, goß er sich ein weiteres Glas voll. Seine Augen blitzten. Seine Lippen zuckten. Er war Jonas von den »Hurenkindern«, das vergesse mal keiner! Er rappelte sich auf, tapste hinter seinen Stuhl, hielt sich an der Lehne fest, wartete, bis endlich alle Blicke auf ihn gerichtet waren, und begann, etwas zu deklamieren: »Ah! Dann nimm den letzten Zweifel, / Höllenbrut – ob Tier, ob Teufel! / Bei dem Himmel, der hoch über uns sich / wölbt – bei Gottes Ehr / künd mir: wird es denn geschehen, daß ich / einst in Edens Höhen / darf ein Mädchen wiedersehen, selig in / der Engel Heer / darf Lenor, die ich verloren, sehen in der / Engel Heer? / Sprach der Rabe, Nimmermehr.«
    Und während er, mit erstaunlich sicherer Stimme, deklamierte, löste er seine Hände von der Lehne, drückte die Brust heraus und blickte verwegen zu Willy, ihm schleuderte er, beim Wort Höllenbrut sogar den Arm ausstreckend, die Verse entgegen. Willy begriff, dies sollte eine Attacke auf seine Person sein, aber mehr, mehr begriff er nicht. Verständnislos starrte er Jonas an.
    Der setzte plötzlich ein feines Lächeln auf und sagte leise: »O ja, man druckt viele Bücher in dieser Stadt. Aber mir scheint, man liest sie nicht.«
    »Doch«, rief Marieluise. Mißbilligung lag in ihrer Stimme.
    Jonas, der sich, was das Bücherwissen betraf, in dieser Runde auf seligmachender einsamer Höhe gewähnt hatte, zeigte sich kurz verwirrt. Fing sich aber sogleich wieder und sagte halb spöttisch und halb neugierig: »Darf ich Sie dann bitten, uns die nächste Strophe zu Gehör zu bringen?«
    Marieluise schüttelte den Kopf und erwiderte gütig, als habe sie einen Patienten vor sich: »Das lassen wir mal schön bleiben, Jonas.«
    »Das lassen wir bleiben? Das lassen wir bleiben? Gar nichts lassen wir bleiben, das ziehn wir jetzt durch, ich ziehe das durch«, er tippte sich auf die Brust, warf den Kopf in den Nacken, lief an seiner Großmutter und seinem Vater vorbei, so daß er mit einemmal Herbert Rabe gegenüberstand, dem alten wachsamen Kämpfer, der eben schon aufgehorcht hatte, als sein Name in diesem … in diesem Vortrag gefallen war. Nun schleuderte ihm, nur ihm, der junge Felgentreu, dieses Milchgesicht in seiner Schornsteinfegerkleidung, mit echter oder gespielter Wut, wer konnte das schon unterscheiden, entgegen: »Sei denn dies dein Abschiedszeichen, / schrie ich, Unhold ohnegleichen! / Hebe dich hinweg und kehre stracks / zurück in Plutos Sphär! / Keiner einzgen Feder Schwärze bliebe / hier, dem finstern Scherze / Zeugnis! Laß mit meinem Schmerze mich / allein! – hinweg dich scher! / Sprach der Rabe, Nimmermehr!«
    Stille breitete sich aus im Gewölbe. Aus dem großen vorderen Bereich des Gastraums klang wie aus einer anderen, harmonischeren Welt leises Besteckgeklirr. Jonas stand noch immer in der Pose des Rezitators – und in der des Westernhelden beim Duell vorm Saloon in hitzeflirrender Luft: die Arme nach unten gestreckt, die Hände nicht an, aber nahe bei der Hosennaht. Und er blickte immer noch auf Rabe. Auch die anderen sahen stumm zu dem hin.
    Rabe zeigte keine Regung. Dachte dieser Rotzjunge tatsächlich, er könne ihn reizen? Er, Herbert Rabe, hatte die Bosheiten der alten Felgentreu von sich abtropfen lassen und hatte Bernhard Werchow zurück in seinen Westen getrieben, da würde er wohl auch noch mit diesem Bengel fertig werden. Er lutschte hörbar an dem kleinen Löffel, den er aus seinem schon geleerten Kompottschälchen genommen hatte. Dann klackerte er, gesenkten Kopfes und scheinbar gedankenverloren, mit dem Löffel an das Schälchen. Endlich, und sehr langsam, nahm er Jonas ins Visier und sagte in einem Ton, der den anderen das Blut in den Adern gefrieren ließ: »Das werde ich mir bestimmt merken, junger Mann, das ist versprochen.«
    »Gut«, antwortete Jonas aber unbeeindruckt. Er wagte sogar noch hinzuzufügen: »Ich kann Ihnen auch gern den ganzen Text schicken.«
    Ganz schön frech, was? Er wandte sich Britta zu, fand Beifall in ihren Augen, funkte Siegesgewißheit durch den Raum. Heiner Jagielka ließ noch einmal sein »ui-ui-ui« ertönen. Clara Felgentreu murmelte, wohl von ihrem giftgrünen Apotheker-Schränkchen inspiriert: »Die Wahrheit ist eine so bittere Arznei, daß

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