Brüder und Schwestern
Leonelli, der vergeblich die nächsten Hiebe erwartete, wie halb erstickt forderte: »Weiter … mach doch … weiter …!«
Endlich wandte er den Kopf zur Seite. Mit vor Erregung verdrehten Augen schaute er Matti an. Matti wiederum starrte voller Bestürzung auf Britta. Sie trug noch ihren schwarzen Gymnastikanzug von vorhin und hatte sich, wohl um ihre Hiebe einwandfrei ausführen zu können, die Haare wieder nach hinten gebunden. Ihr harter und Matti vollkommen fremder Blick, mit dem sie herumgefahren war, wich zunehmend einem verstörten und verzweifelten Ausdruck. Ihr schossen die Tränen in die Augen, und ihr Oberkörper drängte nach vorn zu Matti, aber etwas in ihr riß ihn wie unter Qualen wieder zurück, und sie trat sogar einen halben Schritt nach hinten. Sie griff nach der herunterhängenden Peitschenschnur und zog sie mit zitternden Händen zum Schaft, sie schaute gehetzt zu Boden, gab die Schnur wieder frei, stammelte: »Matti … bitte … ich erkläre dir alles … gleich … du wirst sehen, es ist nicht so schlimm wie du denkst … gleich, ja?«
Sie drehte sich zum Großen Leonelli. Dieser hatte sich während der letzten halben Minute nicht gerührt. Wie handlungsunfähig lag er da, ein an Land gespülter unförmiger Fisch. Aus unnatürlich geweiteten Augen glotzte er die Geschwister an. »Du mußt jetzt gehen, Leo«, sagte Britta in einem Ton, der leise und mitleidig war, dessenungeachtet aber an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ.
Leonelli erhob sich und griff nach seinen Kleidern. Matti starrte auf die roten Striemen, mit denen der Rücken und die vernarbten, an mehreren Stellen fleischlosen Beine des Dompteurs überzogen waren. Dieser Anblick und seltsamerweise mehr noch jenes stumme Greifen waren ihm so peinlich, daß er den Blick abwenden und den Raum sogar wieder verlassen wollte. Aber er konnte nicht. Wie angewurzelt stand er da. Immer weiter mußte er auf Leonelli starren. Die Kleider, die der Dompteur sich nun mit vorsichtigen und fast schon greisenhaften Bewegungen überzog, waren wie die Brittas noch jene vom Auftritt, eine mit Epauletten und Kordeln behängte Offiziersjacke sowie eine Hose, die an den Außennähten vom Bund bis zum Saum daumenbreite goldene Streifen aufwies. Nach allem, was Matti bei seinem Eintreten gesehen hatte, erschien ihm dieses Bild aber geradezu lächerlich, und er mußte würgen; denn von einer Lächerlichkeit, die ein bestimmtes Maß übersteigt, hat man als Beobachter wahrlich nichts außer Brechreiz.
Der Große Leonelli schlich, Britta einen schuldbewußten Blick zuwerfend, aus dem Wagen. Die Geschwister guckten ihm länger nach als nötig und starrten auch noch zur Tür, als Leonelli diese längst geschlossen hatte. Dann bemerkte Britta, daß sie noch immer Leonellis Peitsche in der Hand hielt, und lehnte sie hochkant an die Wand, derart gewissenhaft, als stecke sie eine prächtige Blume in die Vase. Matti stieß einen verächtlichen Laut aus, doch schien er damit Britta plötzlich herausgefordert zu haben. Sie wagte endlich, ihm in die Augen zu sehen, und sagte, er möge sich setzen.
Und da saßen sie sich nun gegenüber an dem Sprelacarttisch vor dem Wagenfenster, auf das von einem der Hauptzelteingänge ein Lichtkorridor zulief; alles Vorherige war im Dämmer jener Beleuchtung geschehen, was den Szenen in Mattis Augen einen noch unheimlicheren Charakter gegeben hatte.
Das Gespenstische wollte auch jetzt nicht weichen. Brittas Gesicht erschien Matti wächsern auf der schummrig beleuchteten Seite und aschig auf der anderen, da tot und dort noch toter. Außerdem wirkte es, wie es so auf dem engen schwarzen, am Hals geschlossenen Gymnastikanzug saß, unförmig und viel zu groß.
»Guck doch nicht so«, flehte Britta, »verdamme mich nicht. Wenn du erstmal alles erfahren hast, wirst du nicht mehr so gucken … hoffentlich …«
»Dann erzähle«, sagte Matti leise.
»Eigentlich ist alles ganz einfach … aber trotzdem … trotzdem weiß ich überhaupt nicht, wo ich beginnen soll …«
»Dann bind dir als erstes die Haare los«, forderte Matti.
Sie tat wie geheißen. »Also … ich fange wirklich mit dem Anfang an, und du mußt mir dein Wort geben, mich nicht zu unterbrechen, auch wenn du meinst, ich würde nicht zur Sache reden, tust du das? … Gut. Als ich in den Zirkus kam, da war Leonelli, mal abgesehen von Devantier natürlich, der aber damals schon nicht mehr aufgetreten ist, die imposanteste Figur, und zwar mit Abstand. Und warum
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