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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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nicht seine. Der Gelehrte in mir war viel zu schnell gewesen mit diesem Kind.
    Ich wußte nicht recht, was tun, da stellte Antonio, der nur den Weinkelch kannte und kein anderes Trinkgefäß, mir eine einfache und völlig logische Frage: »Wie sieht der Schierlingsbecher aus?«
    »Nun«, erwiderte ich eifrig und dankbar, »es gibt nicht den einen, weißt du, aber annähernd die gleiche Form weisen doch alle auf. Ich male dir, hier, schau …«
    Als Antonio das Ergebnis sah, erbleichte er. Starr und steif betrachtete er es, dann verfiel er in ein Zittern, welches sich immer weiter verstärkte. Wie vor Wochen das Besteck, so bewegte sich nun die Fibel auf dem Tisch, ohne daß Antonio ihn berührt hätte. Und das war nicht alles. Mit einer Kraft, wie nur der Hysterische sie zu entwickeln vermag, warf der Junge, ein wolfsartiges Jaulen ausstoßend, plötzlich den klobigen Tisch um. In die erstbeste, in eine beliebige Richtung? In meine. Absichtsvoll, behaupte ich. Der Tisch – oder sollte ich besser sagen: Antonio – erdrückte mich beinahe.
    *
    Dann saß der Junge in sich versunken da. Minutenlang sagte keiner etwas. Nur Gomus’ gleichmäßiges Schnarchen war zu hören.
    Es war Vestis, der schließlich die allgemeine Sprachlosigkeit brach: »Du hast dich an etwas erinnert, Antonio, woran, hm?« Er fragte es in beinahe weiblichem Tonfall, ein Streicheln mit der Stimme.
    Keine Reaktion, Antonio stierte weiter vor sich hin.
    Wieder Vestis: »Wir wollen dir helfen, Antonio, aber helfen können wir dir nur, wenn wir wissen, was geschehen ist und was dich bedrückt.«
    Es nützte nichts, es war wie zur Wand gesprochen.
    Inzwischen hatte ich mich gesammelt und nachgedacht. Da Antonio seinen Anfall beim Anblick des Schierlingsbechers erlitten hatte, mußte solch ein Becher in seinem Leben einmal eine schreckliche Rolle gespielt haben, das lag auf der Hand. Ich räusperte mich, wagte aber noch nicht, etwas zu sagen. Ich kauerte mich neben Antonio und schaute ihm von unten ins Gesicht. Er drehte es weg, das erfreute mich. Kurz bevor der Mensch seinen Starrsinn aufgibt, zeigt er ihn nochmal richtig her, so ist es meistens. Und so sollte es auch diesmal sein.
    »Du warst dabei, nicht? Wer hat aus dem Becher getrunken? Was hast du gesehen?« fragte ich leise, doch auch eindringlich.
    Antonio preßte seine Lippen aufeinander, öffnete sie, preßte sie nochmals aufeinander. Dann stieß er ein Wort hervor, ein einziges.
    Es raubte Vestis und mir für Sekunden die Sprache. Endlich fragten wir beide zugleich: »Du?« Und ich allein: »Du selber hast aus dem Schierlingsbecher getrunken?«
    Er nickte, schamvoll, wie mir scheinen wollte.
    »Aber du lebst, Antonio, du lebst, bist du sicher, daß du daraus getrunken hast? Erinnerst du dich auch richtig? Wann soll das denn gewesen sein, und wo?«
    Er verwrang seinen Oberkörper und flüsterte etwas, das nicht zu verstehen war. Ich bat ihn, es zu wiederholen.
    »Im Palazzo.«
    Palazzo, das war immer Metas liebevoll-ironische Bezeichnung für das aus verschiedenfarbigen Steinen gemauerte Haus gewesen, in dem sie gewohnt hatten. Um aber sicherzugehen, fragte ich nach: »Zu Hause? Bei euch zu Hause, Antonio?«
    Wieder sein mir schamvoll erscheinendes Nicken.
    »Aber das verstehe ich nicht«, rief ich aus, »wo waren deine Eltern? Waren sie da? Oder waren sie … waren sie schon tot?«
    Antonio schüttelte den Kopf.
    »Sie lebten also noch, sie waren anwesend, ja?«
    »Mit dem Anführer.«
    »Welcher Anführer, Antonio?« fragte ich ahnungsvoll weiter.
    »Der meine Eltern befesselt und abgeführt hat, dann.«
    »So. Und wie sah der Mann aus?« Ich wollte es nur noch zur Bestätigung erfahren.
    Antonio schüttelte den Kopf. Lediglich an eines konnte er sich erinnern, seltsamerweise daran, daß die Knie des Mannes »immer nach außen geschnappt« seien.
    »Ja, gut gesehen, sehr gut, O-Beine hat er, und weißt du, wer das war?« fragte ich, nur um mir und ihm sogleich die Antwort zu geben. »Antonio, das war natürlich der Mann, der von deinen Eltern bekämpft worden ist. Der Mann, der sie auf dem Gewissen hat. Der Mann, der dich im Gefängnis hält, weil du von diesen Eltern geboren worden bist. Der Oberste.«
    »Der Oberste«, fragte nun Antonio, »wie heißt er recht?«
    »Nur so. Oberster. Der Mann ist identisch mit seinem Posten, nach dem heißt er und nicht anders. Aber zurück zu dem Schierlingsbecher, wer hat dir eingeschenkt? Der Oberste? Er war es, nicht wahr? Und sage mir, hast du

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