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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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gegenüber dem Obersten liegen. Fraglos hatte ich ihn als Vorgeber und Bestimmer anerkannt. Und die Fraglosigkeit ist es doch, die den gemeinen Lakaien auszeichnet, mehr noch als seine Feigheit. Weil er fraglos ist, muß er nicht einmal feige sein.
    Noch an dem Brunnen beschloß ich, gänzlich neue Fibelseiten zu schaffen; ich schreibe bewußt ›schaffen‹, weil ich mich nicht mehr nur mit Worten ausdrücken mochte. Wenn schon, denn schon! Von nun an wollte ich auch zeichnen und, wo es sich anbot, Dinge aufs Papier kleben, denn Antonio, der inmitten kahler Wände Festgehaltene, sollte buchstäblich eine Anschauung von ihnen erhalten. Vor allem aber wollte ich ihm jene Dinge nicht mehr einzeln, wie beliebige Teile aus einem Register vorstellen. In ihrer Gesamtheit und in ihrer gegenseitigen Bedingtheit wollte ich sie fortan vor ihm ausbreiten, nichts Geringeres schwebte mir vor, als Antonio den universellen Charakter der Welt erkennen zu lassen – und wenn er in ihr auch auf noch so verlorenem Posten stand, und wenn es ihm wohl auch niemals vergönnt sein würde, sie zu durchschreiten. Gerade deswegen!
    Ich verrate nicht zuviel, wenn ich vorausschicke, daß es mir einzig und allein am nächsten Tag vergönnt sein sollte, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Es war ein Tag, an dem sich die Ereignisse wahrhaft überschlugen, nicht gleich, aber dafür um so schneller, je näher die Mittagsstunde rückte …
    Früher als sonst machte ich mich auf den Weg zum Fährtunnel. Es dämmerte gerade; im Wald zwischen kopfsteingepflastertem Weg und reißendem Fluß schälte das einfallende Licht langsam die Konturen der Bäume heraus. Auf einer kleinen Wiese, über der Nebelschwaden hingen, suchte ich nach Schierlingen. Nach ein paar Minuten fand ich welche; sie standen versteckt zwischen anderen Pflanzen, aber das gespenstisch matte Blau ihrer Stengel hatte sie verraten. Ich riß ein paar der Stengel aus dem Boden und steckte sie in meinen Tornister, damit waren die Materialien für mein erstes frei gewähltes Thema vollständig. Gewächse für spätere Unterrichtsstunden, so glaubte ich damals noch, würde ich in aller Ruhe suchen, trocknen und in die Fibel kleben können.
    Vestis, dem es oblag, den Tornister sofort nach meinem Eintreffen auf der Insel zu kontrollieren, was er selbstredend nur pro forma tat, stutzte, als er das Grünzeug entdeckte. Ich bewahrte ihn davor, es aus dem Behältnis zu ziehen, denn ich vermutete, jene Wachen, von denen wir gestern verfolgt worden waren, hätten uns längst wieder im Blick. »Gehen wir, gehen wir, aber langsam, es gibt Neuigkeiten«, flüsterte ich.
    Er zeigte sich begeistert von meiner Idee und setzte mich seinerseits über eine Eigenmächtigkeit ins Bild; und das war eine, die zu der meinen paßte und sie gewissermaßen vervollständigte. Vestis hatte nämlich gewagt, Gomus einen üblen Extrakt aus Cannabis und Baldrian in den Morgentee zu träufeln, auf daß der Wachmann wieder, wie am gestrigen Tage, in den Schlaf fiele und ich abermals frank und frei mit Antonio reden könne. »Als ich die Zelle verließ, schienen mir seine Lider schon schwer wie Dachziegel zu sein. Wir dürfen also davon ausgehen, daß er mittlerweile kräftig vor sich hin schnarcht. So bald wacht der nicht wieder auf.« Vestis lachte leise.
    Einen Augenblick später aber umfaßte er, als habe er sich gerade an etwas Unangenehmes erinnert, ein wenig zu fest meinen Arm und flüsterte hastig: »Herr Magister, ein Wort noch. Ich bemerkte gestern, daß Sie sahen, wie entsetzt ich war angesichts der Gewalt, die Sie Antonio antaten. Sie sollen wissen, heute ist mein Entsetzen verflogen. Ich habe nachgedacht und meine, Sie begriffen zu haben. Sie verfluchen den Obersten, soviel steht fest. Aber er ist für Sie nicht greifbar und erst recht nicht angreifbar. Und darum attackierten Sie Antonio. Nie würden Sie nämlich den Obersten derart verfluchen, wenn Antonio nicht wäre, den er andauernd drangsaliert. Sie haben Ihre Wut umgeleitet, so verstehe ich es.« Vestis schaute mich halb verzeihend und doch auch halb fragend an, und ich murmelte: »Vestis, Lieber, Menschen, die so lieb sind wie du, sollten Richter werden, das wäre ein Fest für jeden Schurken.« Und schon standen wir vor Antonios Zelle.
    In der Tat schlief Gomus wie ein Murmeltier. Antonio aber sprang, noch während die Tür offenstand, freudig erregt von seiner Pritsche. In diesem Moment hatte ich eine atemberaubende Idee, und da Vestis und ich nun nichts

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