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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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mehr vor dem Jungen verborgen halten wollten, und da die Idee mich überhaupt mitriß, sprach ich sie umgehend aus: »Vestis, hör mal, nicht nur Gomus, alle Wachen sollten deinen Tee kriegen, alle! Jawohl, dann schliefe die ganze Insel, und wir drei könnten hier herausspazieren. Wir könnten selber an Land staken und uns dort verkriechen. Später würden wir dann versuchen, aus dem Reich zu flüchten. Was hältst du davon? Würdest du es dir zutrauen, jedem Wächter hier dein Zeug einzuträufeln?« Vestis wiegte den Kopf. »Jedem? Kaum möglich. Wie sollte das gehen? Ich müßte in Ruhe darüber nachdenken und sehen, ob sich vielleicht ein Plan entwickeln ließe, Herr Magister.« In Ordnung, erklärte ich, er möge das unbedingt tun. Nachdem ich aber alles ausgesprochen hatte, durchfuhr mich der Schreck. Dies war keine Spielerei mit der Fibel mehr, dies war der ebenso ausgewachsene wie irrwitzige Gedanke an eine Befreiung Antonios. Wenn der Oberste davon erführe, würde er mir keine Gnade gewähren, sondern mich ohne Zweifel sofort massakrieren. Eilends lief ich an Antonio vorbei zu dem Rohr, um zu prüfen, ob sich mein Taschentuch noch darin befand. Und das war der Fall. Mit Mühe vermochte ich es zu ertasten, so tief war es am Tag zuvor von Vestis hineingestopft worden.
    Erleichtert wandte ich mich dem Jungen zu. »Vergessen wir das erst einmal, vergessen wir es. Laß uns lieber ein wenig arbeiten, Antonio, paß auf, wir lesen wieder etwas, und dann knöpfen wir uns wie gestern ein oder zwei Buchstaben vor. Aber ehe ich beginne, will ich dir noch etwas zeigen.« Ich fischte die Schierlingsstengel aus dem Tornister und reichte sie Antonio zum Begreifen und Beschnuppern. Er zog seine Stirne kraus und sagte angeekelt, es rieche. »Richtig«, lachte ich, »es riecht nach dem Urin von Mäusen. Sehr streng. Doch weiter, höre. Diese Pflanze kann zwei Meter hoch werden, größer, als Vestis ist. Sie hat auch Früchte. Die Früchte, hier, fühle mal, sie erinnern einen an kleine Eier, nicht wahr, an Eier, aber wenn dir dein Leben heilig ist, dann darfst du sie keinesfalls essen. Weil sie nämlich Gift enthalten. Schau auf das Weiße des Nagels deines kleinen Fingers. Nur so eine Winzigkeit von dem Schierling in deinem Magen, und du bekommst Brechreiz und kannst nicht mehr atmen. Wahrhaft, du erstickst, an so einem Fitzelchen. Und nun fahre ich fort, indem ich wortwörtlich vorlese, denn jetzt, Antonio, wird es erst richtig spannend. Jetzt erkunden wir, von dem Fleck aus, an dem die Pflanze gewachsen ist, hier gleich um die Ecke war das, die ganze weite Welt, also: Das Gift des Schierlings wurde vor unserer Zeit benutzt, um Todeskandidaten hinzurichten. Man verabreichte es ihnen in einem Becher; und nach eben diesem Gefäß ist mittlerweile die ganze Hinrichtungsmethode benannt: Schierlingsbecher. Wann aber wählte man diese Methode? Wenn man jenes öffentliche Aufsehen vermeiden wollte, das sich zum Beispiel beim Rädern unweigerlich einstellt. Im übrigen wählten bei den alten Griechen nicht wenige Todeskandidaten selber den Schierlingsbecher. Das war ihnen erlaubt, als Ausdruck des Respekts, den man sogar ihnen, den Verurteilten, entgegenbrachte. Vor allem Gelehrte waren es, die mit dem Becher in der Hand ihr Leben beschlossen. Der berühmteste und bedeutendste trug den Namen Sokrates. In Athen, der Metropole jenes alten Griechenlands, war er jedem Bürger wohlbekannt, da er annähernd täglich auf dem Marktplatz zu reden pflegte. Indes handelte es sich hierbei so gut wie nie um Monologe. Sokrates war zu klug, um welche zu halten. ›Ich weiß, daß ich nicht weiß‹, lautete sein Credo. Es mag kokett klingen und auf versteckte Eitelkeit hindeuten, und doch war es nichts anderes als die Essenz …«
    »Herr Magister«, unterbrach mich plötzlich Vestis, »ich glaube, Antonio langweilt sich.« Der brave Wachmann, der meine gestrige Belehrung, alles laut vorzutragen, offensichtlich nicht vergessen hatte, wagte sogar noch deutlicher zu werden: »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Herr Karandasch: Das alles erscheint mir zu hoch für ihn. Was Sie ausführen, das schwirrt so über seinen Kopf hinweg.« Tatsächlich schaute Antonio mich mit einem schafsgesichtigen Ausdruck an. Der Junge war halb von seinem Stuhl heruntergerutscht, und auch sein Schädel hing tief, so daß er noch gedrungener wirkte, als er ohnehin schon war. Welch trauriger Anblick! Ich hatte Antonio maßlos überschätzt, es war meine Schuld,

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