Brüder und Schwestern
gemäß; so schaffte er es, daß seine Gegner sich untereinander die Haut abzogen. Man merkte es immer erst dann, wenn man sie in der Hand hielt, so eine arme, warme Haut.
Antonio hatte eingehalten. Er rang seine Hände und schaute mich mit einem unterwürfigen Blick an. So, wie er sich gerade verhielt, bat er darum, ich möge ihm Absolution erteilen. Nichts, was ich lieber getan hätte. Nichts, was mir notwendiger erschienen wäre. »Du denkst jetzt schlecht von dir«, sagte ich, »aber das sollst du nicht. Du konntest nichts dafür, merk dir das. Wenn man für etwas schuld hat, soll man sich damit beschäftigen, aber wenn man nicht schuld hat, soll man es vergessen. Also vergiß die Geschichte, mein Junge. Es ist gut, daß du sie erzählt hast. Sehr gut. Nun ist sie raus und kann sich in Luft auflösen.«
Antonio sah mich zweifelnd an, da breitete ich, wie um die Weite der Luft anzudeuten, meine Arme aus. Er folgte mir mit verständnislosem Blick. Ich wurde mir bewußt, wie unangemessen es war, in dieser Zelle das Weite zu beschwören, und erklärte ihm schnell, wir sollten uns jetzt den nächsten Buchstaben vornehmen. Warum auch nicht? Viele Tätigkeiten auf der Welt werden einzig und allein wegen der blanken Hilflosigkeit desjenigen ausgeführt, der sie anweist. Zeile um Zeile ließ ich Antonio den Buchstaben üben, und Zeile um Zeile vertiefte er sich mehr darin, ich bemerkte es daran, wie er mit seiner Zungenspitze den Weg der Feder nachzeichnete. Wieder und wieder linierte er mit ihr seine Lippen. Ich verfolgte es zunehmend andächtig; nichts Weihevolleres auf Erden, als so ein stummes kindliches Üben.
Zuweilen blickte Antonio kurz auf, um sich zu vergewissern, ob er noch in meinem Einverständnis war, dann kritzelte er weiter. Sein massiger Körper war, bis auf den Schreibarm und eben die Zunge, steif vor Aufmerksamkeit, so starr und steif wie sonst nur, wenn Antonio Tränen sah. Der Vergleich stellte sich mir plötzlich ein, und ebenso plötzlich begriff ich, woher diese auf Tränen folgende Starre rührte; nun, da Antonio mir aus dem Palazzo erzählt hatte, war das vollkommen klar.
Keine Zeit aber, darüber nachzudenken, ob es von jetzt an vorbei sein würde mit ihr oder nicht. Das Essen wurde aufgetragen, der übliche Gang der Dinge. Ich erhob mich, um, wie in den letzten Tagen schon, Antonio zum Abschied auf die Stirn zu küssen, da entdeckte ich hinter ihm, unter dem Rohrstummel, mein Taschentuch. Halb zusammengeknüllt und halb entfaltet lag es auf dem Boden. Eine Hitzewelle durchfuhr mich. Wie hatte es herausrutschen können, so tief, wie es daringesteckt hatte? Vor allem aber, wann war das geschehen? Ich hoffte inständig, erst in den letzten Minuten, in der Zeit des Federflüsterns, und nicht schon vorher, in der Zeit der lauten Offenbarungen. Ich klaubte es auf und wollte es schon wieder in das Rohr schieben, als ich auf dem weißen zerknitterten Leinen einen gemalten schwarzen Zacken entdeckte; er sah aus wie die obere Hälfte eines Z. Ich drehte das Leinen, und da war ein gemalter schwarzer Bogen, wie von einem a. Zitternd entfaltete ich das Tuch. Und da stand mit Kohlestift geschrieben: Zur Kutsche, auf!
*
Noch war die Zeit nicht vorbei, in der Matti und Catherine etwas, und etwas, und etwas zum ersten Mal geschah, doch manches wiederholte sich auch schon.
Wieder kam Matti nach zwanzig Tagen, die er auf den Gewässern der Republik verbracht hatte, in die Stargarder Straße zurück, wieder lag Post für ihn in der Küche, wieder kümmerte er sich zunächst nicht um die, sondern um Catherine. Seine Fürsorge war aber anderer Art als sonst. In Mattis Abwesenheit hatte Catherine ihr Examen bestanden, und so rückte er an diesem Abend mit einem Blumenstrauß an, der direkt aus der früheren Zauberzucht des Heiner Jagielka hätte stammen können, so prächtig nahm er sich aus. Überdies bat Matti »die geschätzte Frau Doktor«, sich umgehend anzukleiden, er sagte wahrhaft ankleiden, das kam ihm, der solche Wörter ja zuhauf geschrieben hatte, wie selbstverständlich über die Lippen, also ankleiden möge sie sich, denn er wolle sie ausführen zum Essen ins beste Haus am Platze.
Catherine nahm, nach einer Sekunde der Überraschung, seine Sprache auf und fragte, welches Etablissement er als das beste erachte.
Nun, darüber ließe sich vorzüglich streiten, einige Kenner neigten dem Ermelerhaus auf der Fischerinsel zu, andere favorisierten das Ganymed am Schiffbauerdamm.
Catherine zog leicht
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