Brüder und Schwestern
richtig, alles richtig! Aber Jonas, Matti, genau das will ich Ihnen ja begreiflich machen: Trotzdem ist er ausgebürgert worden. Und was ich noch viel schlimmer finde: Die haben das nicht zurückgenommen, obwohl Gott weiß wer sie mit Unterschrift drum gebeten hat, Sie kennen die Namen, alle, deren Bücher wir uns reinziehen, und deren Filme, alle, die uns wichtig sind. Es hat nichts genützt, daß sie sich zusammengetan haben. Und was heißt das? Das heißt, die Zeit, die irgendwie noch luftig war, ist zu Ende. Man macht es eng jetzt. Man setzt sich über die angesehensten Leute hinweg, verstehen Sie denn nicht, was das für die anderen bedeutet?«
»Was wollen Sie?« fragte Matti grimmig. »Daß er sein Hemd auszieht?«
»Ja, genau«, stimmte Jonas ein, »wollen Sie, daß ich den Schwanz einziehe, wegen eines Hemdes, wegen so eines lächerlichen Fetzens Stoff?«
Karin Werth starrte an die Decke, atmete ein paarmal schwer ein und aus und sagte schließlich leise: »Das will ich nicht. Das kann ich gar nicht wollen. Andererseits … aber andererseits will ich es, denn ich kann auch nicht wollen, daß Sie in Schwierigkeiten geraten.«
Die beiden schwiegen.
Sie schaute abermals auf die Uhr, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, rief: »Herrgottnochmal, ich weiß doch auch nicht! Ich wollte … vielleicht wollte ich Ihnen nur zu verstehen geben, daß das jetzt wohl kein Spaß mehr wird. Ja, nehmen Sie es als Warnung. Unten tut es weh, wenn oben eine Schraube angezogen wird, immer unten …«
Sie schob die beiden aus dem Zimmer, stürmte davon, stoppte nach zwei, drei Schritten, versuchte zu lachen, sagte: »Vielleicht male ich auch nur den Teufel an die Wand. Vielleicht passiert gar nichts. Bestimmt passiert gar nichts. Ja, hört nicht auf mich. Ein Hemd, mein Gott, das kann ja wohl nicht wahr sein, laßt euch nicht verrückt machen von mir, laßt euch nicht verrückt machen.«
»Gut gesagt«, meinte Matti nachdenklich.
»O ja, gut gesagt«, wiederholte Jonas anzüglich. Er griente, aber Karin Werth, jetzt endgültig davoneilend, sah es schon nicht mehr.
Sie liefen ihrer Klasse, der 12 b, nach, auf schmutzigrotem rissigem Linoleum, und rissig auch der Kitt an den Fenstern, sie hörten, wie der Novemberwind gegen die Scheiben drückte, sie spürten kalte Fächer, die ihnen an die Wangen schlugen.
Die Jungs hatten gerade ihre Plätze erreicht, als es klingelte und Eleonore Stelzer, ihre Staatsbürgerkundelehrerin, den Raum betrat. »Unser heutiges Thema«, setzte sie, ihre Materialien sortierend, an, »ist Basis und Überbau. Sie sollten dazu Marx lesen, das Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie , sowie Engels, seine Einleitung zum Anti-Dühring . Beginnen wir also. Was haben die beiden in diesen Arbeiten …«, sie hob den Kopf, blickte in die Klasse, stutzte. Sie trat vor den Lehrertisch, legte den Kopf schief, beugte den Körper wie ein Kind, das um die Ecke lugt. Sie faßte sich, als sei sie erschrocken, mit ihren Fingerspitzen an die Brosche mit der rosafarbenen Rose, die den obersten Knopf ihrer weißen Bluse verdeckte. Sie ruderte wie hilflos mit den Armen, griff nach hinten zum Lehrertisch und stieß hervor: »Ich betrachte das als eine unglaubliche Provokation, Jonas!«
Er saß mit Matti in der letzten Bankreihe. Alle Gesichter wandten sich zu ihm, einige mit unwissendem, andere mit gespanntem, wieder andere mit hämischem Ausdruck. Jonas drehte kurz seine Handflächen nach oben und ließ die Hände wieder auf den Tisch fallen, er spielte den Ahnungslosen.
»Äußern Sie sich bitte dazu, Jonas!«
»Wozu, Frau Stelzer?«
»Zu Ihrer Kleidung!«
»Was ist mit meiner Kleidung?«
»Tun Sie nicht so unschuldig. Sie denken wohl, Sie können mich für dumm verkaufen?«
»Ist sie dreckig, hat sie Löcher, muß ich …« Jonas, von Matti unterm Tisch getreten, besann sich und sagte mit dem Maß an Freundlichkeit, das ihm zur Verfügung stand: »Bitte, Sie müssen mir erklären, was Sie so erzürnt.«
Eleonore Stelzer ging, vielleicht um Zeit zu gewinnen, zurück hinter ihren Tisch, griff mit den Händen nach der Lehne ihres Stuhls, sagte endlich: »Dies ist die Kleidung eines … eines Hetzers, der bei uns bekanntlich nicht mehr erwünscht ist. Also – auch seine Kleidung nicht.«
Jonas hob kurz den Finger: »Ja, darüber wollte ich sowieso mit Ihnen reden. Wieso gilt er eigentlich als Hetzer, ich verstehe das nicht. Er hat doch, wenn man es zusammenfaßt, da drüben in Köln erklärt, daß er mit
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