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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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dem Westen nichts zu schaffen haben will und daß er die DDR für das bessere Land hält, na, wie soll ich sagen, zumindest für das mit der besseren Zukunft. Können Sie mir das erklären, Frau Stelzer?«
    Gemurmel da und dort. Es spielte hier tatsächlich jemand mit dem Feuer. Es dachte jemand nicht an seinen Studienplatz. Auf der Stuhllehne Lehrerinnenknöchel, weiß vor Anspannung.
    »Ich habe nicht die Absicht, mir von Ihnen das Thema der heutigen Stunde diktieren zu lassen, Jonas!«
    Er lächelte überlegen: »Aber Sie selber haben es doch angeschnitten.«
    Eleonore Stelzer schnappte nach Luft.
    Nun schritt Matti ein: »Vielleicht ist das die Gelegenheit, einmal … einmal wirklich zu diskutieren. Aufrichtig. Anhand dieses Konzerts.« Er erhob sich, wie um zu verdeutlichen, daß es ihm wichtig war, was er jetzt sagte. Oder aber er wollte nur die Klasse und deren Reaktion überblicken. »Ich weiß, man redet darüber normalerweise nicht offen, über dieses Konzert. Westfernsehen, immerhin. Das sieht ja keiner, außer, daß alle es sehen. Also … wie seltsam, daß ich hier plötzlich stehe … laßt uns darüber reden. Ist das möglich? Vielleicht«, er beschrieb mit seinem Kopf einen Halbkreis, »melden sich erst einmal die, die den Auftritt geguckt haben.«
    Mattis heiliger Ernst. Das verstörend Geradlinige seines Großvaters. Für Jonas, so schien’s, war es auch ein Spiel, für ihn nicht. Kein Zweifel, er strebte nach Austausch, er hangelte nach dem Unmöglichen. Nicht ein Arm, der sich da hob.
    Matti unternahm einen zweiten Versuch, wandte sich an Frau Stelzer: »Haben Sie es denn gesehen?«
    »So was? So was muß ich nicht sehen.«
    »Wie können Sie dann behaupten, der Mann wäre ein Hetzer?« fragte nun Jonas.
    »Das weiß man doch«, schrie sie, »das weiß jeder, und jetzt Schluß mit der Diskussion. Sie verlassen sofort den Unterricht, Jonas, und wechseln das Hemd.«
    Jonas verschränkte die Arme: »Dazu haben Sie kein Recht!«
    »Sie weigern sich?«
    »Richtig, ich weigere mich.« Und trotzig fügte er einen Satz hinzu, der in den Auseinandersetzungen der nächsten Tage noch eine gewisse Bedeutung erlangen sollte: »Ich fordere Sie ja auch nicht auf, Ihre häßliche Bluse mit der kitschigen Brosche drauf zu wechseln.«
    Matti stöhnte auf. Dieser und jener schüttelte den Kopf. Eleonore Stelzer starrte Jonas haßerfüllt an. »Ich werde«, zischte sie, »nicht eher mit dem Unterricht beginnen, bis Sie den Raum verlassen haben.«
    Jonas blieb sitzen. Erste Unmutsäußerungen wurden laut. Warum er nicht gehe. Warum er dauernd störe. Warum er immer provozieren müsse. Eine Stimme, von irgendwo vorn: »Mach dich vom Acker!«
    Eleonore Stelzer vernahm es nicht ohne Befriedigung. Sie ließ ihren Blick über die Bänke schweifen, ließ ihn ein paar Sekunden auf Jonas ruhen, erklärte schließlich gefaßt und bedeutungsschwanger wie eine Richterin: »Ich stelle fest, daß Jonas Felgentreu den Unterricht verhindert. Ich sehe mich daher gezwungen, den Direktor aufzusuchen und ihm darüber zu berichten.«
    Sie stapfte aus dem Raum. Die Klasse murmelte. Niemand, Matti ausgenommen, würdigte Jonas eines Blickes. Matti sagte leise: »Jetzt ist die Kacke am Dampfen.« Jonas griente, aber nicht verwegen, sondern nun doch ziemlich bang.
    *
    Etwa eine Stunde später fuhr ein voll-, nicht aber schwerbeladener Škoda nach Gerberstedt hinunter, gebauchpinselt vom hohen Gras, das zwischen den Spurrinnen des Wiesenweges stand. Darinnen saß, natürlich, Heiner Jagielka. Der pfiff sich eins, dem war, nachdem er die LPG passiert hatte, selbst das Ächzen der Achsen und das Wummern der Reifen auf dem von hier an mit Platten belegten Weg eine rechte Begleitmusik, der rumpelte selig über die Betonteile, die sich vor ihm auftürmten wie von Wellen hochgeschobene, ineinander verkeilte Eisschollen, kein Wunder, eröffnete sich doch vor seinem geistigen Auge eine wundervolle Perspektive: Er war nun bereit, sein Städtchen floristisch auf ganz andere, viel einträglichere Art zu versorgen, als er es bisher getan hatte. Heiner Jagielka schlug ein paarmal mit der flachen Hand aufs Lenkrad und rief: »Die Irrenanstalt mit Blumen schmücken! Die Irrenanstalt mit Blumen schmücken!« Er mußte sich, da er jetzt tatsächlich über ein Produkt verfügte, das reißenden Absatz finden und vor allem: das immer wieder nachwachsen würde, nur noch über den Preis einig werden, einig mit sich selber. 60 Pfennige pro Stiel? Das waren 20 mehr,

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