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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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Selbstsucht bemäntelte.
    »Sie nutzen die Situation, um sich über andere zu erheben«, rief er, »alles, was Sie kritisieren, kommt Ihnen doch in Wirklichkeit zupaß. Weil Sie Ihre Verbindungen haben. Weil Sie nicht wie die anderen anstehen müssen in der Schlange. Ich weiß, was hinter den Kulissen geschieht, ich weiß es sehr wohl.«
    Bei diesen Worten war Duhr aufgesprungen. Ein Ende seines Schals fiel vor sein Gemächt. Mit Schwung warf er es sich wieder um den Hals. »Ich und Tina, wir haben uns das verdient! Wir werden vom Publikum geliebt! Aber in diesem Lande, falls Sie das nicht wissen sollten, reicht es nicht, vom Publikum geliebt zu werden. Die Funktionäre sind’s, die mitspielen müssen. Also benutzen wir sie, was ist dabei? Wenn sie uns ihre Hand schon hinstrecken, warum sollten wir die nicht ergreifen?«
    Willy spürte ein schon körperliches Unbehagen. Er mochte Duhr nicht länger ertragen, er sagte: »Bringen wir die Sache zu Ende. Wir müssen noch über das Papier reden. Schwebt Ihnen ein bestimmtes vor?«
    Der Sänger stutzte. »Natürlich schwebt mir eines vor, was hatten Sie denn gedacht?«
    Willy wiederum lächelte schmallippig, Zorn und Zähne unter Verschluß haltend.
    »Kunstdruck, matt gestrichen, 150 Gramm.«
    Willy nickte. Duhr hatte sich informiert, hatte was besonders Opulentes gewählt, Papier mit dem größten Gewicht pro Quadratmeter. »Sie meinen Mediaprint. So heißt es. Das haben wir leider nicht.«
    »Dann besorgen Sie es.«
    »Sie haben mich nicht richtig verstanden, Herr Duhr. Solches Papier wird in der DDR nicht hergestellt. Sie müssen ein anderes wählen.«
    Duhr stutzte abermals, zeigte dann auf Willys Telefon. »Geben Sie her.«
    Er plazierte den Apparat auf seinem Schoß, ließ die Wählscheibe sirren und rief, »Duhr, stellen Sie mich bitte durch«. Er hob seine Beine und legte seine stiefelbewehrten Füße auf Willys Schreibtisch. Die effektvoll blinkenden Schnallen kratzten auf dem weichen Eschenholz.
    »Nehmen Sie Ihre Füße runter!«
    »Ja, Genosse Minister, hier ist der Tim, heute mal ohne die Tina, haha, ich störe ungern, aber …«
    »Sie sollen Ihre Füße runternehmen!«
    »… aber die haben in dem Laden hier nicht das Papier, das unabdingbar ist für unser Büchlein, kann man es vielleicht, kann man im Westen«, er wandte den Kopf zu Willy, »wie heißt diese Sorte, Herr …«
    Willy war aufgestanden und zu Duhr getreten. Jetzt drückte er kurzerhand auf die Gabel. Duhr starrte ihn sprachlos an. Der Hörer in seiner Hand tutete. Es sah aus, als hielte er eine gerade vom Leib getrennte, noch pulsende und doch schon tote Gliedmaße in die Höhe.
    Willy ließ ein leises »tsss« ertönen, ging rasch zur Tür, hielt sie auf und sagte, er habe keine Zeit zu vertrödeln, daher möge Duhr, wenn er unbedingt Wert darauf lege, mit Berlin vom Vorzimmer aus sprechen, Fräulein Perl werde ihn unterstützen, sofern er nicht auf die Idee komme, auch ihr Revier mit Fleisch zu belegen, das da nicht hingehöre; oh, Willy hatte ein gutes Gefühl von sich, ein viel besseres sogar, als zu erwarten gewesen war, es glich schon einem Triumph, aber als er wieder hinter seinem Tisch saß, empfand er plötzlich eine unendliche Müdigkeit, er kam sich so kraftlos vor und so ausgelaugt, als wäre es bereits sieben Uhr abends, und er hätte zwölf Stunden gearbeitet. Dabei war es noch nicht einmal um zehn.
    *
    Wenn er von seinem Büro aus dem Fenster sah, konnte er über das gewellte, mit dunkelgrünen Moosinseln bedeckte Betondach der betriebseigenen Schwimmhalle hinüber zur Erweiterten Oberschule »Markus Roser« blicken, in der Matti und Britta lernten. Je nach Lichteinfall waren hinter den Scheiben des Backsteingebäudes die Schemen der Schüler zu erkennen, oder sogar ihre Profile, oder, in seltenen Momenten, auf die Tafel geschriebene, wegen der Entfernung für Willy freilich unlesbare Tabellen und Formeln. Und je nachdem, aus welcher Richtung der Wind wehte, war während der Hofpausen Geschrei zu hören, oder das Aufprallen eines Balls, Butterbrotpapier, das zerknüllt wurde, mädchenhaftes In-die-Hände-Klatschen. Oder gar nichts.
    Dort drüben hatten Matti und Jonas gerade Deutsch gehabt, bei Karin Werth, die ihre Lieblingslehrerin war. Sie besaß eine samtene Stimme, und schlossen die großen Jungs die Augen, dann, seltsame Transformation, kratzte diese Stimme in ihrem Magen. Und öffneten sie ihre Äuglein wieder, sahen sie vor sich den wohlgeformten, meist in engen Jeans

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