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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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kann ich dienen, Herr Duhr?«
    »Ja-ha«, Tim Duhr lächelte und ließ die Urkunde schwungvoll auf den Tisch segeln. Willy mußte mit seiner flachen Hand schnell auf sie schlagen, sonst wäre sie auf seiner Seite des Tisches gleich wieder heruntergestürzt. Währenddessen ließ sich Duhr in den Sessel fallen. Aufgeräumt rief er: »Na, Verehrtester, nun sagen Sie mal, bis wann Sie das erledigen können.«
    Verehrtester, äffte Willy ihn im stillen nach. Er nahm seine Hand von dem Schriftstück und erfaßte mit einem Blick das Wesentliche: Tina und Tim, ein Leben in Noten, 100 000 Exemplare. Entsetzt, und durchaus unkontrolliert, sagte er: »100 000!«
    »Wie meinen, Verehrtester?« Duhr neigte den Kopf.
    »100 000«, wiederholte Willy, »das ist mehr, als bisher jeder andere Bildband gehabt hat. Das kriege ich, wenn überhaupt, erst in den nächsten Quartalsplan.« Er wußte, damit würde er bei Duhr kaum durchkommen. Aber ein alter, einfacher, ziemlich männlicher, vielleicht lächerlicher Instinkt war geweckt. Er wollte Duhr wenigstens einen Kampf liefern, wollte dem selbstgewissen und zugleich schleimigen Kerl im Rahmen seiner Möglichkeiten widerstehen. Mit einem Wort: Wenn Duhr gegangen sein würde, wollte er kein allzu schlechtes Gefühl von sich selber haben.
    »Ich bitte Sie, Verehrtester, Sie müssen sich doch hier nicht zieren, ich weiß, das kriegen Sie locker in den aktuellen Plan. Das wird Weihnachten im Handel sein. Das muß Weihnachten im Handel sein! Die Leute haben ein Anrecht auf unser Buch. Sie warten darauf. Es ist überfällig. Sie, Verehrtester, wissen, daß unsere Konzerte ständig ausverkauft sind. Und immer Zugaben! Und wir könnten jeden Tag im Fernsehen auftreten. Wir sind ein Exportartikel, wie Sie vielleicht auch wissen, wir haben jede Menge Fans im Westen …«
    Jede Menge, dachte Willy, das glaubst du doch selbst nicht.
    »… insofern erscheint mir die vereinbarte Auflage noch knapp bemessen. Wer«, Duhr lächelte maliziös, Duhr schaute aus Augen, die in diesem Moment nahezu vollständig von den Lidern bedeckt waren, »wenn nicht Tina und ich? Nichts gegen die Kollegen, aber keiner von denen, nun, ich muß wohl nicht weiterreden …«
    Keiner von denen kriecht dem ZK so in den Arsch, dachte Willy.
    »Sie schweigen, Herr Werchow? Ja nun, nichts für ungut, Verehrtester, wahrscheinlich sind Sie der falsche Mann, wenn es um Fragen der Musik geht. Sie sollen mein Buch ja auch nur drucken. Und Sie werden es so drucken, daß es Weihnachten im Handel ist, ja?«
    Willy stand die zweite Kettenreaktion vor Augen, die an diesem Vormittag in Gang gesetzt wurde. Bediente er Duhr und die propere, platinblonde Erscheinung an dessen Seite, würde ein anderer Titel geschoben werden müssen, einer, der vom Verlag schon angekündigt und von den Buchhändlern schon geordert war.
    »Ihnen ist wahrscheinlich egal, daß dafür jemand anderes rausfliegt«, sagte Willy; er war vielleicht kein ganz lupenreiner Moralist, aber da er gerade nicht recht weiterwußte, sprach er so, als wäre er einer.
    Duhr wand sich wie unter Schmerzen in seinem Sessel. »Da tun Sie mir aber unrecht, Verehrtester, großes Unrecht! Worum geht es denn in Wirklichkeit? Doch nicht um mich oder Tina. Sehen Sie, der Punkt ist doch folgender: Wo Mangel herrscht, muß es notgedrungen zu Verteilungskämpfen kommen, und in den Verteilungskämpfen setzen sich ebenso notgedrungen die Stärksten durch. Das war immer so, und das wird immer so sein, das soll man bitteschön nicht Tina und mir vorwerfen. Nicht wir sind das Problem, die Mängel sind es. Wenn es sie nicht gäbe, müßten wir nicht so stark sein. Nicht wir müssen uns also entschuldigen, sondern diejenigen, die für die Engpässe und die daraus resultierenden Schlangen Verantwortung tragen … in diesem Zusammenhang, sind Sie Genosse, Verehrtester?« Er lächelte, denn natürlich wußte er, niemand wurde Direktor eines 1000-Mann-Betriebes wie dem »Aufbruch«, wenn er nicht das Parteiabzeichen hatte.
    Willy nickte.
    »Dann sollten Sie in Ihrem Beritt dafür sorgen, daß die Schlangen verschwinden. Mehr Druckmaschinen, mehr Papier – keine wartenden Kunden.«
    Willy begann der Kopf zu dröhnen. Er spürte, er kam nicht an gegen diese Art von Argumentation. Einerseits hatte Duhr recht. Er selber, Willy, regte sich doch genauso über die Mängel auf. Aber andererseits war der Kerl ein furchtbarer Narziß, der mit dem Verweis auf die allgemeine Lage nur seine überbordende

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