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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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vermutete, sie sei ein Wesen, dem man sich wohl etwas vorsichtiger nähern müsse, eines, das jegliche Aufdringlichkeit haßte, weil es schon zuviel davon erfahren habe. Gleichwohl lag es ihm fern, seines kleinen Fehlschlags wegen ins Grübeln zu verfallen. Er nahm sich vor, bei seiner nächsten Begegnung mit der Dame, sollte sie sich überhaupt ereignen, zurückhaltender zu agieren, er rief der gaffenden Kundschaft zu, Sellerie, so isses Leben, oder etwa nich? und eilte zurück an den Stand. Wo sich mittlerweile ein Mann eingefunden hatte, der dadurch auffiel, daß er, im Gegensatz zu allen anderen, keinen Mantel und keine Jacke trug. Auf dem Revers seines grauen Anzugs prangte das Parteiabzeichen.
    Es war Ingo Altenhof, Herbert Rabes Nachfolger als Erster Gebietssekretär. Nicht, daß Heiner Jagielka auf ihn gewartet hätte. Aber erwartet, erwartet hatte er ihn durchaus: Wir alle ahnen, was bestimmte ungewöhnliche Stunden bereithalten werden, und sind dann gar nicht überrascht, wenn es sich tatsächlich ereignet.
    »Ah, der Genosse Altenhof!«
    »Jagielka! Was haben Sie denn schon wieder ausbaldowert? Sie sorgen ja hier für einen Menschenauflauf wie beim 1. Mai!«
    »Das ist ein gutes Stichwort, Genosse Altenhof, ein sehr gutes Stichwort«, beeilte sich Heiner Jagielka zu erwidern.
    Der Genosse Altenhof aber ging nicht darauf ein. Statt dessen wünschte er, für alle Anwesenden deutlich vernehmbar, von dem mobilen Händler zu erfahren, ob er über eine Genehmigung des Rates des Kreises verfüge, »um hier plötzlich auf Nelken zu machen«.
    »Noch nicht, Genosse Altenhof, noch nicht.«
    Worauf der Funktionär feststellte, dann sei sein Gegenüber hier wohl illegal tätig.
    Heiner Jagielka, da mußte er gar nicht überlegen, das ging ganz automatisch, beugte sich zu Ingo Altenhof und flüsterte ihm zu, es sei nicht im entferntesten seine Absicht gewesen, bestehende Gesetze zu mißachten, vielmehr wären sozusagen die Pferde mit ihm durchgegangen, und warum? Nur deshalb, weil er, im Grunde von heute auf morgen, die Möglichkeit gesehen habe, einen, und das meine er durchaus wörtlich, wunderschönen Beitrag zur Entwicklung Gerberstedts, »unser aller Gerberstedts«, zu leisten, einen Beitrag im übrigen, dessen Ausmaß Altenhof, bei aller Wertschätzung, hier und jetzt noch keineswegs zu überblicken in der Lage sei, weshalb er, Jagielka, sich erböte, um nicht zu sagen darum bitte, noch heute, wenn es denn des Gebietssekretärs sicherlich proppenvoller Terminkalender zulasse, ihm unter vier Augen eine genauere Beschreibung der bisher im dunkeln liegenden Angelegenheit zu liefern.
    Es dämmerte dann schon, als Heiner Jagielka in Altenhofs Büro saß. Er hatte alle Nelken verkauft. Er hatte 900 Mark der Deutschen Demokratischen Republik eingenommen (was die Hälfte von Willys Monatsverdienst war). Er hatte sie am gläsernen Schalter der Sparkasse Ruth Werchow durch die bogenförmige Öffnung geschoben, mit der Versicherung, er werde jetzt öfter hier bei ihr vorbeischauen. Er hatte den Hunger, der ihn plötzlich ereilte, mit zwei von Anton Maegerlein ausdauernd gewendeten Bratwürsten gestillt. Und er war sich sicher, daß ihm auch das letzte, was heute noch zu bewerkstelligen war, nur glücken konnte: Wir alle wissen, an bestimmten Tagen reiten wir auf dem Uhrzeiger und fallen nicht herunter, ehe sie um sind, diese Tage.
    Ingo Altenhof, weniger harsch als sein Vorgänger Rabe, dafür gewandter und listiger, leitete das Gespräch folgendermaßen ein: Wenn er seinen Pappenheimer unten auf dem Marktplatz korrekt verstanden habe, was durchaus nicht zutreffen müsse, so führe der ein Angebot mit sich. Ob er mit dieser Vermutung richtig liege?
    »Trifft zu«, bestätigte Heiner Jagielka. Er erläuterte das Angebot, welches im Kern beinhaltete, daß es möglich sein würde, die Bürger Gerberstedts, wenn sie in einem halben Jahr sich wieder formieren würden, um am 1. Mai ihre unverbrüchliche Treue zu Partei und Regierung zu dokumentieren, in ihrer Gesamtheit mit frischen, festen, langstieligen roten Nelken zu versorgen, was bei den Gerberstedtern zweifelsohne eine noch höhere Hochstimmung hervorrufen werde, als wenn sie sich wie gehabt Papiernelken anstecken müßten, die mit den spitzen Drahtstielen, an denen man sich immer die Finger blutig spieke, Genosse Altenhof wisse schon.
    Ach, und fast habe er es vergessen: Selbstverständlich sei er bereit, die Blumen, Stücker 5000, wie er schätze, an diesem für alle ja

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