Brüder und Schwestern
steckenden Hintern Karin Werths. Am liebsten aber hatten sie es, wenn ihre Lehrerin mit dem rechten Arm etwas an die Tafel kritzelte und ihnen dabei das Gesicht zuwandte: Hals, Brust, Taille und Hintern bildeten dann ein auf dem Kopf stehendes Fragezeichen, und dieses anzuschauen, das war wirklich ein Ereignis.
Doch das allein war es nicht, was Matti und Jonas an Karin Werth bannte. Höchstens für ein paar feuchte Träume hätte es gereicht, für den Extrakt jugendlichen Rubbelns, wenn diese Lehrerin nur Phrasen von sich gegeben hätte, abgegriffene, verklumpte Wörter. Doch die ertönten nie. Als wolle sie etwas von ihrer hinreißenden Erscheinung zurücknehmen, sprach sie nachdenklich, wie tastend, Zweifel offenbarend. Und mit diesem Herabschweben aus der Sphäre der Unerreichbarkeit nahm sie die Jungs nur noch mehr für sich ein. Mochte ihr Körper, der perfekte, nicht greifbar sein, ihre Gedanken, die zerfaserten, waren es. Sie stellte Fragen, die wahrhaft die verschiedensten Antworten ermöglichten, welche wiederum in neuen Fragen mündeten – und wer sonst, wer außer ihr war denn schon an Fragen interessiert?
Karin Werth, das gefiel ihnen am meisten, spielte mit Wörtern und Gegebenheiten. Einmal, als Matti zu spät zum Unterricht erschien, rief sie ihm honigsüß entgegen: »Sie wollten wohl heute nicht? Ich sage Ihnen, junger Mann, kommen Sie lieber zu uns – ehe wir zu Ihnen kommen.« Es war ein Spruch, den das Volk der Stasi in den Mund legte, eine Begrüßung, die Matti beschwingt auf seinen Platz federn ließ. Ein andermal gab diese Karin Werth ein Aufsatzthema vor, das aus einer einzigen Frage bestand: »Was ist Risiko?« Und sie benotete Jonas, der nur ein Wort und, nicht zu vergessen, ein Satzzeichen hingeschrieben hatte, nämlich: »DAS!«, mit einer glatten 1. Was erst der Anfang einer Geschichte war. Denn aus dem Lehrerzimmer drang bald das Gerücht, Direktor Krümnick habe, nachdem er, von wem auch immer, in Kenntnis gesetzt worden war über diese in seinen Augen absolut inakzeptable Entscheidung, Karin Werth gefragt, ob dämliche Witze neuerdings ausgezeichnet würden, und sie aufgefordert, die 1 durch eine 5 zu ersetzen. Karin Werth aber habe sich geweigert – und nicht nur sich geweigert, sie habe noch dazu geschwärmt von der Komplexität des Denkens und der Reife der Anschauung, die sich in dem einen Wort bündelten, »es war das Zauberwort, das der Schüler Felgentreu getroffen hat, Herr Krümnick, man muß diesem Wort doch verfallen, man muß einfach, das ist nur ein kleiner, billiger Artikel, ein Massenartikel, wenn Sie so wollen, aber schauen Sie doch, wie er in diesem Zusammenhang funkelt …« Es heißt, die schöne Karin Werth habe bei ihrem Plädoyer, sozusagen als unterstützende Maßnahme, verzückt ihre rehbraunen Augen verdreht, bis die ganz weiß waren, und der Direktor Krümnick habe hilflos gebrummt, sie solle aufhören mit diesen Sperenzchen, sie sehe ja aus »wie eine von diesen Drogenabhängigen in Wuttschtock«, und dann habe er sich getrollt und die Sache auf sich beruhen lassen.
Jetzt nahm Karin Werth Jonas, der ausnahmsweise einmal keine schwarzen Klamotten, sondern ein Fleischerhemd trug, und Matti beiseite. Sie fuhr Jonas mit der flachen Hand über das Hemd und sagte: »Sieht chic aus. Totchic. Ich mag das.« Jonas wurde heiß. »Aber Frau Stelzer wird es überhaupt nicht mögen. Sie haben doch jetzt bei Frau Stelzer, richtig?«
Jonas lächelte.
Karin Werth sah ihn durchdringend an.
Nun war es Jonas, der die Augen verdrehte, wenn auch nicht so dramatisch wie damals im Lehrerzimmer sie: »Was ist schon dabei. Ich meine, es ist einfach nur ein Hemd, ob die Stelze es mag oder nicht.«
Karin Werth schüttelte den Kopf: »Wir müssen uns doch nichts vormachen, Jonas. Es war einmal ein gewöhnliches Hemd, aber nur bis letzte Woche, bis zu dem Konzert in Köln. Jetzt ist es eine Aussage. Und das wissen Sie. Deshalb tragen Sie es ja.«
Jonas runzelte die Stirn: »Das klingt fast so, als wären Sie gegen die Aussage. Gerade von Ihnen hätte …«
»Ich habe eben gesagt, daß ich es mag«, unterbrach ihn Karin Werth.
»Na also, wo ist das Problem?«
Sie schaute auf die Uhr. »Wir haben noch drei Minuten bis zum Klingeln, also in aller Kürze: Der Mann mit dem Fleischerhemd ist ausgebürgert worden, ratzfatz ging das …«
»Er hat nichts gegen die DDR gesungen«, warf Matti unwirsch ein, »er hat sich nichts zuschulden kommen lassen, er hat …«
»Alles
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