Brüder und Schwestern
diesmal, indem er eine Lieferung mit ungarischer Salami fertigmache, zu deiner freien Verfügung, Willy, komm du mir noch einmal mit ’ner Bitte, Weitermann, dich Verbrecher laß ich abblitzen wie nix, nur, was soll jetzt mit dem bunten Weißpapier werden? was? ich faß es nicht, Dorle, ein Einbruch? und wo? im Depot am Bahnhof geschah der Einbruch? Sauerei, aber bevor Dorle weiterredete, schnell eine Verbindung zu Keppler, genau, Dorli, der Grossist, brauchen aus betriebsbedingten Gründen umgehend nicht im Plan aufgeführtes Papier, wie? das weiß ich auch nicht, wie der das ranschaffen soll, flöte, Dorli, biete ihm ungarische Salami, ködere ihn, und frag vorher Kluge, wieviel Tonnen genau, und hol mir, ich höre wohl nicht recht? tatsächlich? 5000 Exemplare entwendet von einem einzigen Titel? was für ein Titel? begreife ich nicht, begreife ich immer noch nicht, ist der so gut? egal, der Dieb wandert sowieso in den Knast, den schnappen sie doch, sobald er das Zeug an den Mann bringen will, und ich kann mich gleich mitverantworten, wegen fehlender Gebäudesicherung, was für ein Witz, die kannst du gar nicht sichern, die Ruine da unten, Zehntausende Bücher in dieser Erdhütte, und das nennt sich Depot, ruf die Polizei, Dorli, und zwar sofort, nein, vor, sie hat erst Keppler angerufen, und zur Seite, richtig, der ist auch wichtiger gewesen, und zurück, und dann die Polizei, vor, zur Seite, zurück, vor, Seite, rück, immer an dem Seil lang, immer an dem Seil lang …
Etwa 20 der 30 Minuten, die Willy zu schwimmen pflegte, waren um. Noch immer hatte er den Kopf nicht frei. Auf der zweiten Bahn neben ihm, den Blick geradeaus gerichtet, Dietrich Kluge. Ob der wohl weiter war, ob der jenen ersehnten Zustand der vollkommenen Leere erreicht hatte? Willy drängte es jetzt geradezu, wieder einmal zu spüren, wie alles Komplizierte, wie scheinbar sogar jegliches Denken von ihm wegflutete, obwohl sich dann sein Denken natürlich nur nicht mehr als solches zu erkennen gab, weil es mit der wieder und wieder ausgeführten Bewegung verschmolz. Ganz leicht fühlte Willy sich in solchen Minuten, wie ohne Schädel, und wie ohne Innereien. Nur mechanisch sich spreizende und sich streckende Arme und Beine waren da noch, Gliedmaßen, die weiß der Teufel wer bediente, er jedenfalls nicht – o ja, das war der großartige Frieden, der im Stumpfsinn liegt: Er wollte ihn schaffen, jetzt endlich, er jagte ihn. Jagte? Nicht, hämmerte er sich ein, nachdem er sich dessen bewußt geworden war, nicht jagen! Der muß sich von selber einstellen, der Frieden. Aber diese honorige Absicht war nun leider auch schon wieder Teil des Problems, war der Grund, daß sie ihr Ziel verfehlte: Du darfst nämlich noch nicht einmal dieses Nicht! denken, denn wenn du es denkst, glühst du ja schon vor verstecktem Interesse, du darfst deinen Wunsch, welcher es auch sei, überhaupt nicht kennen, dann, und nur dann, wird er sich erfüllen.
Willy nahm sich vor, morgen früh als erstes einen Brief an Zeiller zu schreiben. Darin würde er, um bei den zu erwartenden Untersuchungen nach dem Einbruch nicht zu sehr in die Defensive zu geraten, den gottserbärmlichen Zustand des Lagers am Bahnhof schildern und die wieder und wieder verschobene Freigabe von Mitteln für einen Neubau nun aber mit deutlichen Worten fordern. Daß man endlos um die immer gleichen Dinge ringen mußte! Willy ruckte ärgerlich nach vorn, steckte mehr Kraft als gewöhnlich in den nächsten Zug, tauchte tiefer als sonst, atmete, jene Tiefe nicht bedenkend, schon mit der Nase ein, als sie noch unter Wasser steckte, verschluckte sich und mußte husten wie ein sich Erbrechender.
Sein Erster Drucker drosselte sofort das Tempo und schaute erschrocken zu ihm herüber: Aha, schwamm Kluge also auch nicht im Teich aus Leere. Hatte Kluge auch nicht den verwilderten, verwunschenen Kanal in die Augen- und Ohrenlosigkeit gefunden.
*
Am nächsten Morgen bildete sich unterm Backsteinkreuz des Eingangsgewölbes der EOS »Markus Roser«, da, wo die Wandzeitung hing, rasch eine Menschentraube. Die ersten Schüler, jene, die mit Bussen aus den umliegenden Dörfern schon zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn eingetroffen waren, hatten das mit FDJ-blauem Tuch bespannte Brett zunächst eher routinemäßig mit ihren Blicken gestreift, im Schlendern. Waren dann aber stehengeblieben. Und sogleich taten es ihnen andere Eintreffende nach, schauten ihnen über die Schulter, spürten in ihrem Rücken schon die
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