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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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Komplizen unterwegs gewesen ist. Deshalb habe ich nebenbei bemerkt auch aufgehorcht, als du sagtest, jede Stunde würde jemand von deinen Leuten das Lager kontrollieren. Das bestätigt nämlich nur die These von den Mittätern: 5000 Exemplare allein und mit eingegipstem Arm wegzuschaffen, ist ja schon in einer Nacht kaum machbar, aber in weniger als einer Stunde, nein, da ist es absolut unmöglich. Kalus muß Helfer gehabt haben. Vielleicht haben die sogar die ganze Arbeit für ihn erledigt, wer weiß.«
    Willy durchfuhr ein Schreck, er ahnte, daß Zeiller recht hatte mit seiner These, und er ahnte sofort auch, wer jene Mittäter waren, denn er erinnerte sich einer der Nächte, in denen er bei Achim im Bahnwärterhäuschen gesessen hatte – was dort zur Sprache gekommen war, erschien ihm in diesem Moment in einem neuen Licht.
    Jonas, so hatte er damals erfahren, lud sich mit den »Hurenkindern« dann und wann Literaten zu inoffiziellen Lesungen und Diskussionen ein. Zu diesen Literaten gehörte auch Kalus. Der erwies sich zunächst als scheu. Der war auch überhaupt kein guter Vortragender. Der nuschelte fürchterlich und verhaspelte sich dauernd, kein Wunder, der war ja öffentlicher Podien entwöhnt, von dem durfte ja nichts erscheinen. Der war, eben weil er sonst kein Podium hatte, dankbar für solche Einladungen, und führten die ihn auch nur in einen ausrangierten Waggon am Ende des Bahnhofsgeländes, und verdiente er auch keinen Pfennig dabei.
    Nachdem dieser arme Teufel nun also bei den »Hurenkindern« zu Gast gewesen war, faßte er Vertrauen zu ihnen, und eines Tages bat er sie zur Vorstellung eines – natürlich unveröffentlichten – Manuskripts zu sich nach Hause; das war nicht weit von Gerberstedt, in Greika. Von der Erzählung über jenen Besuch wußte Willy noch jedes Detail, obwohl sie doch durch die Weitergabe von Jonas zu Achim und von Achim zu ihm an Prägnanz und Eindringlichkeit hätte verlieren können. Warum es sich so verhielt? Warum alles so eindringlich blieb? Weil jener Bericht eindeutig das Maß dessen überstieg, was Willy an Wirrnissen und Schrecknissen für möglich gehalten hatte.
    Kalus, sagte Jonas, und sagte Achim, servierte, bevor er las, einen Kuchen. Schwer zu beschreiben, wie er aß. Hastig, zuckend, seine Arme, seine Hände, selbst seine Finger bewegend wie ein aufgeregtes Insekt. So ganz kurze, abgehackte Bewegungen, auch der Füße, auch der Füße, die in Pantoffeln reinschlüpften und wieder raus, rein, raus. Das war gar nicht aufgefallen während seiner verhuschten Auftritte in Gerberstedt. Als ob er sich da, in der Fremde, nahe gelegen zwar, aber doch eine Fremde, gezwungen habe, nichts bloßzulegen. Und nun war er zu Hause, nun offenbarte er, willentlich oder nicht, alles. Alles? Genug jedenfalls. Entschuldigt bitte, nuschelte er, weil sie ihren Kuchen schon lange vertilgt hatten und er noch immer aß, ich verfüge, wie ihr vielleicht schon bemerken konntet, über nicht mehr allzu viele Zähne, ich habe mir die meisten ziehen lassen, alle, die mit Plomben bestückt waren, mußten weg, denn sie waren gefährlich geworden für mich, in höchstem Grade gefährlich, man hat mich, Kalus duckte sich, als rasiere ihm ein Flugzeug den Haarwirbel, und senkte die ohnehin schon leise Stimme, abgehört vermittels der Plomben, der Zahnarzt, bei dem ich ein und aus ging damals, der hat für die Firma gearbeitet und mir Wanzen implantiert, im Mund, an der Quelle, aus der die Wörter blank, wie blank nur so sprudeln, ich habe den Arzt gewechselt und gefordert, raus mit all diesen Zähnen, in einem Zug, und aus meinem Mund ist Blut geflossen zungenbreit und fingerdick hinein in das leere Glas, in dem sich sonst Spülwasser befindet.
    Als Kalus sein Essen beendet hatte, berichtete Jonas, und berichtete Achim, führte er seine jungen Gäste durchs Haus, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Ein helles, geräumiges Haus. Vom Wohnzimmer blickt man auf den gekrumten Rücken eines sich in der Mitte erhebenden und an den Seiten sanft auslaufenden Feldes. Von der Küche auf ein Gestänge, das wohl leise klirrt, wenn, seiner Bestimmung gemäß, jemand Teppiche darauf klopft. Vom Schlafzimmer hat man Sicht auf einen fernen Nadelwald, dessen Spitzen auf einer Front alle paar Zentimeter in den Himmel zu zacken scheinen. Aber nun die Schreibstube, nun die! Kalus hätte ja in seinem schönen Haus inmitten dieser schönen Landschaft Platz genug für eine schöne Schreibstube. Jedoch ist es nur ein

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