Brüder und Schwestern
dann, wenn es einen sozusagen gefangengenommen habe, eine Wendung, die einem Aufruf nahekäme, ach was, die einen Aufruf darstelle, einen unverhohlenen Appell zur Republikflucht. Für alle jene Kollegen, die das Machwerk noch nicht gelesen hätten, lasse er es nun herumgehen, verbunden mit der Bitte um Hinweise, und seien es auch nur Vermutungen, denn am Anfang gar mancher Erkenntnis stünden nun einmal Vermutungen, wer aus der Schülerschar der Verfasser oder die Verfasserin sei oder sein könnte.
Nachdem vom Direktor das Wort »Republikflucht« fallengelassen worden war, holte Karin Werth, die mit gesenktem Kopf, alle zehn Fingerspitzen an den Schläfen, dagesessen hatte, tief Luft, als wolle sie etwas sagen. Aber dann atmete sie leise, durch die Nasenlöcher, wieder aus und blieb stumm; so wie sie stumm blieb, als Krümnick seine Bitte um Hinweise und Vermutungen vortrug. Freilich hob sie da ihren Kopf, und wer nicht völlig blind war, der konnte darin eine Mischung aus Überraschung, zum Ekel gesteigerten Unwillen und Stolz entdecken. Sie senkte wieder ihren Kopf und spießte ihn sogleich auch wieder mit ihren Fingerspitzen auf, als würde er ohne diesen Halt herunterfallen.
Und niemand sonst, niemand außer Karin Werth wußte Bescheid? Nun, überraschenderweise ließ der Physiklehrer Hellmuth Seilenz, ein kleiner, glatzköpfiger Mann, der in Versammlungen nie etwas sagte, ein kurzes Lachen ertönen, nachdem er das Gedicht in die Hände bekommen hatte. Sofort richteten sich alle Augen auf ihn, auch die Karin Werths. Seilenz biß sich auf die Lippen.
»Sie wollten etwas sagen, Kollege Seilenz?« Der Direktor war ganz Ohr.
Seilenz schüttelte erst den Kopf, hob dann aber, wohl einsehend, daß es aussichtlos sein würde, sein Schweigen durchzuhalten, zögernd zu einer wirren Erklärung an: Derzufolge war er vor ein paar Tagen zu Besuch bei Verwandten gewesen, um eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln, diese Angelegenheit war dann jedoch zu seinem Leidwesen bis nach Mitternacht liegengeblieben, weil die Angehörigen ungebührlicherweise und gegen seinen Willen es vorzogen, ewig lange fernzusehen, weshalb er nicht umhinkonnte, ebenfalls ein paar Blicke auf das Geschehen zu werfen, das sie, die Angehörigen, wie schon gesagt …
»Welches Geschehen? Worauf wollen Sie überhaupt hinaus? Zur Sache, Kollege Seilenz, zur Sache«, forderte Krümnick.
Seilenz aber sprach wie mancher, der es nicht gewohnt ist, in größerer Runde zu reden, weiter in Rätseln. Er verwies auf die Benotung im Fach Physik, und darüber hinaus in den anderen naturwissenschaftlichen Zweigen, bei der bekanntlich nicht nur das Ergebnis einer gestellten Aufgabe berücksichtigt werden müsse, sondern auch die Wege zu dessen Erlangung; ein Ergebnis könne falsch sein, der Weg dahin aber durchaus interessant und nachvollziehbar, was, auf die jetzige Situation bezogen, eigentlich nur bedeuten solle, es sei nicht unwichtig und bitteschön von den Anwesenden zu bedenken, auf welche Weise er seine Informationen …
»Welche Informationen? Reden Sie schon, Seilenz, reden Sie!« forderte Krümnick.
Und da endlich erfuhren er und die anderen im Kollegium, wer das Gedicht verfaßt hatte, der Sänger, der die ganze Nacht, unter anderem mit eben jenem Gedicht, in dem vermaledeiten Fernseher gewesen war. »Daß ich darauf nicht gleich gekommen bin«, stöhnte, hörbar nur für die unmittelbar neben ihm Sitzenden, der Direktor. Es schien, als schämte er sich nun dafür, steif und fest gedacht zu haben, ein Schüler sei der Urheber des Gedichts, es schien, als fragte er sich, wie er überhaupt jenen irrigen Gedanken habe spinnen können; dabei passiert so etwas immer wieder, passiert auch viel edleren Gemütern, jemand verliebt sich – völlig einerlei, ob in einen Menschen oder in einen Gedanken –, und wenn er dann mit der Nase darauf gestoßen wird, daß es sich bei seiner Liebe um einen grandiosen Irrtum handelt, geniert er sich dieser gleich wie einer Flechte, die seinen Körper überzieht, anstatt mit ein bißchen Selbstachtung zurückzuschauen: Irgend etwas muß da doch gewesen sein, was seine Liebe ausgelöst hat, weißgott nicht alles kann er sich doch eingebildet haben.
Jetzt ging alles sehr schnell. Eleonore Stelzer erklärte, es sei dringlich, denjenigen zu finden, welcher die Frechheit besessen habe, den Erguß des Staatsfeindes auszuhängen. Rolf-Dieter Krümnick ordnete an, jeder Kollege solle in der nächsten Stunde in seiner Klasse
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