Brüder und Schwestern
konnte er nicht mehr an sich halten und rief zu Britta: »Warum hast du es mir nicht gesagt? Wieso erfahre ich das als Letzter? Habe ich etwa kein Recht darauf? Was ist denn los heute? Habe ich kein Recht darauf?«
Ihr schossen die Tränen in die Augen. Sie rannte aus dem Zimmer, Catherine ihr nach, sie müsse an die frische Luft, sagte Britta mit erstickter Stimme, so liefen sie auf die Straße, und auf der Straße dann, automatisch, in Richtung des Werchowschen Grundstücks. Als in Höhe der Brücke Britta sich halbwegs wieder beruhigt hatte, kam Catherine, das lag ihr wohl auf der Seele, vorsichtig auf den nackten Oberkörper Jonasens an der Eingangstür zu sprechen. Sanft, und doch erkennbar verwundert, fragte sie, wie man denn in der Situation miteinander, na, Britta wisse schon.
»Du meinst mit Situation , daß gerade alles schiefläuft?«
»Ja, bei ihm. Ihm ist doch heute alles weggebrochen.«
Da erzählte Britta traurig, daß es ja gerade deswegen passiert sei. Sie, um es kurz und knapp wiederzugeben, war gebeten worden, ihn zu entkleiden, und nur seines Trotzes wegen, nur, weil er seinen Stolz zeigen oder wiedererlangen und aufrichten wollte, und dazu waren feine Mädchenhände vonnöten, und nach gewissermaßen halber Strecke ein Mund, der sollte den Rest erledigen, wie Britta durch einen bestimmten Druck bedeutet wurde, halb fühlte sie sich zum Lutschen verdammt, halb lutschte sie freiwillig; doch zunehmend erfolglos, bald meinte das Mädchen, ein Gummitier zu bearbeiten, so weich war schon wieder, was sie da zwischen ihren Lippen spürte. Überraschenderweise, das hatte ihr, und dem Jungen, noch gefehlt, sonderte das Tierchen im weiteren Erschlaffen, kurz vorm Sich-Niederlegen, doch noch ein Sekret ab, einen müden Ausfluß, klebrige Tröpfchen der Scham, die nun beide befiel, gerade in dem Moment, in dem es zu allem Unglück auch noch klingelte.
Catherine brachte Britta bis zum Gartentor. Wo Matti, der in der Felgentreuschen Wohnung noch ein paar Worte mit Jonas gewechselt hatte, zu ihnen aufschloß. Und als er dann vor ihnen stand? Schlugen die Mädchen die Augen nieder, denn bei aller Liebe zu ihm, das wollten sie nun doch nicht, daß er in denen las, was sie gerade besprochen hatten.
*
Willy verließ die Gebietsparteileitung und trat auf den Marktplatz. Es dunkelte schon. Ein paar Frauen mit schweren Einkaufstaschen, jede von ihnen einzeln, hetzten nach Hause. Im »Olympia« wurde das Licht gelöscht. Aus der »Sonne« torkelte eine Gestalt. Der unvermeidliche, stoische Anton Maegerlein schmiß die nicht verkauften Bratwürste in den Papierkorb, vier Stück, alle schrumpelig und dünn.
Willy war geschlagene drei Stunden bei Altenhof gewesen – eigentlich aber nur eine halbe Stunde. Die restlichen zweieinhalb Stunden hatte er wartend im Besucherzimmer verbracht, auf einem mit beigem Stoff bezogenen Stuhl und unter Beobachtung von Erich Honecker, dessen Porträt ihm gegenüber an der Wand hing. Eine Weile hielt er zum Zeitvertreib eine Art Zwiesprache mit dem Bild. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, bis sie feucht wurden und die Gesichtszüge Honeckers verschwammen, wobei es ihm einzig und allein auf den Moment des darauf folgenden Augenöffnens ankam: Dann nämlich waren die Züge jedesmal andere geworden. Mal wölbte sich über Willy eine fürchterlich krumme Nase, mal klaffte Honeckers Mund, als wäre er eine Wunde, mitten auf der Stirn, mal schien Honeckers Hornbrille den Bildrahmen zu verdecken. Nach fünf oder sechs Versuchen wurde Willy des Spielchens überdrüssig. Außerdem taten ihm die Augen weh. Er begann, im ND zu blättern, das, als einzige Zeitung, vor ihm auf dem Tisch lag. Er brach, nachdem er gemerkt hatte, daß er außerstande war, sich auch nur auf das Lesen des Sportteils zu konzentrieren, diese Beschäftigung ebenfalls wieder ab. Er hatte einen trockenen Mund, also drehte er die Heizung herunter. Aber es lag nicht an der Heizung. Er klopfte an die Tür zu Altenhofs Sekretariat, bat um ein wenig Margonwasser und sah durch den Spalt einer weiteren Tür Altenhof allein in seinem Zimmer hocken. Hatte der nicht etwas von Terminen erzählt? War das vielleicht ein Termin, den er gerade wahrnahm? Willy versuchte, nicht darüber nachzudenken. Als er dann endlich zum Gespräch vorgelassen wurde, fühlte er sich wie zerschlagen, und überhaupt nicht mehr nervös, eher gelähmt, von einer seltsamen Gleichmut befallen, von einem ihn selbst erschreckenden Fatalismus, er gähnte
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