Brüder und Schwestern
abstreitest, ebenso hart zu arbeiten wie die Angestellten im ›Aufbruch‹.«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Nein, hast du nicht, doch du redest, wenn man genau hinhört, und ich höre genau hin, einer Zwei-Klassen-Gesellschaft das Wort. Hier die Parteikader – da das übrige Volk. Wir sind aber eine Partei für das ganze Volk, Genosse Werchow!«
Willy sah vor seinem geistigen Auge einen schwarzen Lada durch Gerberstedt brausen, Altenhof im Fond, selbst die kürzesten Wege ließ er sich chauffieren, und nie traf man ihn in irgendeinem Geschäft, und nie in der »Sonne«, es hieß, in seiner mit Westelektronik gesicherten Villa befände sich im Souterrain eine Sauna mit Bar, in der säße Altenhof regelmäßig mit diesem und jenem Subalternen – und der, ausgerechnet der schwadronierte jetzt vom ganzen Volk.
»Ich kann darüber nicht bestimmen«, sagte Willy gereizt.
»Das habe ich auch nicht erwartet. Aber vielleicht könntest du mir eine Zusage darüber geben, dich bei deiner Leitung im Sinne der Gerberstedter zu verwenden. Versteh mich nicht falsch, Genosse Werchow, es liegt mir fern, hier ein Tauschgeschäft in Gang zu bringen, aber ich möchte dich schon daran erinnern, daß ich mich eben, deine Tochter betreffend, auch nicht gesperrt habe, obwohl es wahrhaft gute Gründe dafür gegeben hätte. Ähnlich triftige Gründe vermag ich hier nun beim besten Willen nicht zu erkennen. So schwer dürfte es dir nicht fallen, meinen Wunsch, der, ich betone das nochmals, ja nur insofern mein Wunsch ist, als er die Wünsche der Bürger Gerberstedts widerspiegelt, in Berlin durchzusetzen.«
Willy war geschlagen. Sachlich gesehen hatte dieser Altenhof ja sogar vollkommen recht. Die Schwimmhalle stand tatsächlich fast leer. Doch er nahm dem seinen selbstlosen Einsatz nicht ab, er wußte doch, der hatte nur darauf gewartet, einen Fuß in die Druckerei zu bekommen. Jetzt war die Gelegenheit da; und von wegen kein Tauschgeschäft, natürlich war es eines, natürlich.
»Es dauert aber, sofern sich eine Öffnung überhaupt erwirken läßt«, erklärte Willy.
»Gewiß«, antwortete Altenhof. »Was ich allerdings heute schon gern von dir hätte, sogar unbedingt, das ist dein Ehrenwort, die Sache umgehend auf den Weg zu bringen. Ich betrachte dies als festen Bestandteil unserer Abmachung. Sollte sich demnächst erweisen, daß du nicht mitziehst, wird man sicher auch über die Zukunft deiner Tochter noch einmal neu nachdenken müssen. Also, habe ich dein Wort?«
Willy erstarrte. Das war kein Tauschgeschäft, das war eine Erpressung! Lupenreine, unverschämte Erpressung! Doch er konnte jetzt nicht mehr zurück. Mit sichtlichem Widerwillen ergriff er die Hand, die Altenhof ihm hinstreckte. Sie war weich wie ein Waschlappen.
*
Als er endlich zu Hause eintraf, hatte Ruth schon das Abendbrot bereitet, »Stulle mit Brot«, wie Rudi immer zu sagen pflegte und wie vor allem die Kinder nicht müde wurden zu wiederholen. Und überhaupt erinnerte in der Küche, wo sie in aller Regel aßen, noch so einiges an Rudi. In der Mitte thronte der klobige Tisch mit dem zerkratzten Linoleum, auf dem er, wenn ihm danach war, Willy versohlt hatte. Auch der wuchtige Küchenschrank, der, vom Zimmereingang gesehen, sich rechts vom Tisch befand, stammte noch aus Rudis Zeit. Ebenso das grobrillige, abgewetzte Sofa links der Tür, auf dem er regelmäßig die Radio-Nachrichten gehört hatte. Neu war im Grunde nur der Gasherd auf der gegenüberliegenden Seite, dort, wo früher der bauchige Kohleherd gestanden hatte, dessen Griffe Willy in der Dämmerung immer wie Augen, Nase und Mund eines menschlichen Gesichts erschienen waren. Keine Frage, daß sie jenen Austausch, der ihnen ja eine spürbare Arbeitserleichterung brachte, bald nach der Übernahme des Hauses vorgenommen hatten. Warum sie alles andere so beließen, obgleich sie sich doch ohne weiteres noch dieses oder jenes hätten leisten können? Wohl, weil sich ihnen das Vorhandene weiterhin als stimmig erwies, und wohl auch, weil das, was ein paar Städtchen weiter die Möbelwerke poduzierten, einen wenig haltbaren Eindruck auf sie machte, und auch noch, weil sie sowieso nicht dem Neuen nachjagten, denn wenn die einzige Qualität darin bestand, daß etwas neu war – was sollte das dann?
»Kommt ihr bitte!« Willy klang so beherrscht und fordernd, als riefe er im »Aufbruch« zur Versammlung. Matti und Britta erschienen auf der Stelle, und alle setzten sich, auch Ruth, die schnell eine Brühe
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