Brüder und Schwestern
nicht ein Löwe? Hier draußen, hier vor der Stadt befand sich doch das Winterquartier vom Zirkus Devantier. Sie hatte es, als sie klein gewesen war, mit Willy, Ruth und den Brüdern ab und an besucht. Und ein paar Jahre, immer Mitte Oktober, hatte sie, da schon mit Catherine, es sich auch nicht nehmen lassen, zur letzten Saisonvorstellung zu gehen, die Devantier, wohl als Ausdruck seiner glücklichen Rückkehr nach langer, strapaziöser Gastspielreise durch die Republik, stets in Gerberstedt gab. War sie also zum Zirkus getrieben! Sie hatte ja gewußt, daß nur der sich hier, eingangs der ansonsten unbewohnten und unbebauten Aue, befand – und hatte zugleich doch nicht gewußt, daß sie auf ihn zuging. Schon konnte sie linkerhand das über der Einfahrt angebrachte Holzschild erkennen, auf dem »Devantier Circus« stand, eine Reihenfolge, die sie immer irritiert hatte und die sie auch jetzt wieder verwirrte. Sie ließ im Weitertrudeln ihren Blick über die rot-weiß gestrichenen Zirkuswagen schweifen. Sie schlenderte zu einem Zelt, in dem Peitschengeknall ertönte, steckte ihren Kopf durch einen Schlitz in der Plane und kam gerade recht, um zu beobachten, und zu bestaunen, wie ein Kamel einen stählernen Strahl Urin in den mit Sägespänen bedeckten Boden schoß. Dort war nun ein großes Loch, aus dem es zischte wie aus einem gerade gelöschten Brandherd. Wahre Dampfschwaden erhoben sich. Sie verfolgte interessiert, wie die Ausscheidung des Kamels versickerte, und schlenderte dann weiter zu den Raubtierwagen. Da waren Löwen, Tiger, Schwarze Panther und Bären. Richtig, fiel ihr wieder ein, »Devantier Circus« war berühmt für seine Raubtierdressuren. Sie postierte sich vor den Tigern, aus einem einzigen Grund: weil in deren Wagen gerade jetzt die Sonne schien und sich dort auf beglückende Weise an den Gitterstäben brach und vor allem am gestreiften Fell der unentwegt auf- und abwandernden Tiere; bizarre Lichtschlitze, die sich öffneten und wieder schlossen, ein unaufhörliches Flimmern und Flirren in Gold und Schwarz, ein verwirrendes Blenden, dem sie sich hingeben, dem sie sich noch weiter nähern mußte. Sie verrückte eines der transportablen Eisengitter, die in etwa zwei Metern Entfernung vor den Wagen aufgestellt waren, schlüpfte durch die entstandene Lücke und verharrte direkt vor den Tigern. Wo sie sich nun aus ein paar Zentimetern anblitzen ließ, während jedes Wimpernschlags von mehreren, und immer wieder von anderen Punkten aus.
Plötzlich grub sich etwas Hartes in ihren Oberarm. Eine eisern zupackende Hand. Fast im selben Moment fand sie sich hinter den Absperrgittern wieder, und jemand brüllte sie an: »Bist du lebensmüde? Bist du verrückt? Was denkst du denn«, der Jemand hob das eiserne Absperrgitter, streckte es in die Höhe wie eine Pappfigur, drückte es, als wäre es nicht schon schwer genug, wütend zurück auf die Erde, so daß es nach dem scheppernden Aufprall noch ein paar Sekunden summte, »wozu das hier steht? Wozu steht das hier? Bin ich ein Idiot? Habe ich vielleicht irgendwo Frischfleisch bestellt?«
Britta rieb sich mit der Hand den Oberarm. Sie erkannte den alten Devantier, wagte einzuwenden: »Da sind doch Gitterstäbe vor. Ich habe doch nicht durchgelangt.« Dennoch zitterte sie nun, aber es war sichtlich der Prinzipal selber, der ihr Furcht einflößte.
»Nicht durchgelangt«, raunzte Devantier, »warte mal!« Er ließ einen gellenden Pfiff ertönen. Ein Junge, wenig älter als Britta, kam, mit einer Forke in der Hand, hinter einem der Raubtierwagen hervorgeschossen. »Pulli aus«, befahl Devantier. Der Junge ließ die Forke fallen und entledigte sich gehorsam seines hier und da mit Heu bedeckten Rollkragenpullovers. Schuldbewußt, wenngleich nicht ohne Stolz, drehte er seine rechte Schulter vor. Britta starrte plötzlich auf ein vernarbtes und verknorpeltes Loch, in das, sowohl von der Größe als auch von der Form her, ziemlich genau eine handelsübliche Kaffeetasse gepaßt hätte.
»Da mußt du gar nicht durchlangen«, rief Devantier zu ihr, »das erledigen schon die Bürschchen da«, er zeigte auf die unverdrossen hin- und hertigernden Wagenbewohner. »Da kennen die gar nix, siehste mal.«
Britta wurde aschfahl. Sie spürte einen Brechreiz. Einen Moment befürchtete sie, jetzt gleich, und mit einem Schwall, die Kaffeetasse füllen zu müssen.
Der Junge regte sich nicht, er stand da wie ein einstmals perfektes steinernes Denkmal, aus dem leider ein bißchen was
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