Brüder und Schwestern
Altenhof schiebt die Idee nur vor, das ist mir klar, das ist nicht schwer zu erkennen.«
»Aber es ist noch nicht der entscheidende Punkt. Warum kommst du nicht gegen ihn an? Weil du nicht begreifst, was ihn wirklich antreibt.«
»Und was ist das, deiner Meinung nach?«
»Was ganz Profanes. Was Archaisches. Er will die Macht über seine Herde, in jeder Situation, über jedes Mitglied. Er betrachtet dich als sein Mitglied. Daß du selber dich als Teil einer anderen Herde, wenn auch derselben Rasse, betrachtest, war ihm seit jeher ein Dorn im Auge. Dein Ausscheren, es hat seinen Selbstwert geschmälert. Nur deshalb mußte er dich erniedrigen: um seine eigene latente Schmach vergessen zu machen. Apropos, weißt du, wovon ich fest überzeugt bin? Daß er selber von diesen Vorgängen in seinem Innern keinen blassen Schimmer hat. Garantiert meint er, in der Tradition Herbert Rabes zu stehen. Garantiert geht er davon aus, reinen Herzens zu sein und ausschließlich etwas für seine Bürger zu tun, wenn er dich zwingen will, die Schwimmhalle zu öffnen. Dabei ist diese Öffnung nur ein Abfallprodukt seines eigentlichen Antriebs. Den er, ich wiederhole mich, nicht kennt. Perfekter Selbstbetrug ist seine Grundlage. Wie ja Selbstbetrug, wenn ich es einmal weiter fasse, überhaupt das Kennzeichen dieser zweiten Generation hoher Tiere hier in diesem hübsch umzäunten Gehege ist. Ja, sie muß sich erstmal selbst betrügen. Sie muß vorgeben zu glauben. Das hat die erste Generation nicht gemußt. Die hat tatsächlich geglaubt. Die war noch im reinen mit sich. Deshalb hat die offen gefochten. Nimm die Enteignung meiner Gerberei. Was für ein brutaler Akt ist das gewesen. Ich muß dir nicht sagen, wie ich ihn verabscheut habe und wie er mir zugesetzt hat. Und doch konnte ich ihm, aus meiner Abwehr und meinem Ekel heraus, folgen. Er war brutal, aber nicht niederträchtig und nicht verlogen. Sie handelten so klar und einfach, wie sie dachten. Ihre Nachfolger dagegen bringen es zustande, Jonas unter dem billigsten, fadenscheinigsten Vorwand von der Schule zu werfen. Was für eine Heuchelei! Daran sehe ich doch, sie sind sich ihres Denkens selber nicht sicher. Wer so laviert, denkt nicht klar. Und dieses Lavieren, so schwer es ist, damit zurechtzukommen, das erfreut mich nun aber. Es erfreut mich sogar außerordentlich! Weil es das erste Zeichen für ihren Rückzug ist. Einerseits ist es viel schwieriger, dem zu begegnen, andererseits ist es ein gutes Zeichen.«
»Ich gehöre auch zu denen, Achim …«
»Richtig, richtig, auch du zwingst dich zu glauben, aber der nicht unerhebliche Unterschied ist, daß du gern glauben magst, es würde sich noch etwas grundlegend ändern in deiner Partei, durch einen Personalwechsel, durch einen Eingriff von Gott dem Allmächtigen, was weiß ich. Du bist der aufrichtigste Lavierer, den ich kenne, Willy! Du bist die ärmste Sau, die in dieser Gegend hier herumläuft.«
»Dankeschön«, sagte Willy, das klang sarkastisch und liebevoll zugleich.
»Aber da ich von Rabe sprach – was ist eigentlich mit Bernhard? Du hast nie mehr etwas von ihm erzählt, seit er sich damals so mit Rabe gefetzt hat.«
»Da gibt’s auch nichts zu erzählen«, sagte Willy.
»Immer, wenn jemand sagt, es gäbe nichts zu erzählen, gibt es in Wahrheit eine Menge zu erzählen …«
»Ach, eine Menge … wir haben keinen Kontakt mehr. Bei uns beiden ist die Sturheit durchgebrochen, das muß man schon gestehen.«
»Keiner hat’s geschafft, den ersten Schritt zu tun?«
Willy nickte: »Ich habe mir gesagt, nicht ich bin doch aus der ›Sonne‹ gerannt, das ist doch er gewesen, also bitte, soll er sich melden.«
»Und er«, sinnierte Achim, »hat wahrscheinlich gemeint, er sei vertrieben worden aus der Gaststätte, und es sei an dir, ihn gewissermaßen zurückzuholen.«
Willy wiegte den Kopf.
»Aber vielleicht war das gar keine richtige Sturheit, vielleicht verdeckt ihr mit der nur was anderes?«
Willy stutzte und schaute dann seinen Freund mit einem Blick an, der besagte, du kennst mich aber gut, du kennst mich ja besser, als ich mich selber kenne. »Ja«, sagte er schließlich, »das war wohl genauso eine Scham. Ich habe mich für meinen Wankelmut geniert; und wenn ich mal versuche, mich in Bernhard hineinzuversetzen, dann denke ich mir, ihm war seine überhitzte Reaktion peinlich.«
»Es ist jetzt drei Jahre her …«
»Sicher, aber erleichtert das uns die Sache? Im Gegenteil, ich spüre, wir haben mittlerweile den
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