Brüder und Schwestern
hat?«
Erik erblaßte.
»Oje«, entfuhr es der Mama, als höre auch sie das erste Mal davon.
Rothe aber ließ sich von ihrem mitfühlenden Zwischenruf nicht beeindrucken, er fragte: »Wollen Sie gar nicht erfahren, um was für ein Machwerk es sich handelt?«
Erik nickte: »Doch … natürlich … doch.«
Der Direktor schob ihm eine Kopie des Blattes über den Tisch, das an der Wandzeitung gehangen hatte, und nannte dazu den Namen des Ausgebürgerten.
Erik las, fand nichts Anrüchiges. Gar nichts? Doch, etwas fand er, etwas schwang mit beim Lesen, und das war jener Name, der Name des Verfemten. Daß Britta ein Gedicht von dem hatte verbreiten müssen … oh, er, Erik, liebte die Kleine, liebte sie von ganzem Herzen, und trotzdem ertappte er sich jetzt dabei, sie zu verdammen für ihr unstetes Verhalten, für ihre Unvorsicht, für ihren Mangel an Vorausschau. Hatte sie denn gar nicht bedacht, daß es auch auf ihn zurückfallen würde, wenn sie so ein Machwerk … Machwerk, stutzte er nun wieder, wieso formuliere ich bei mir das Wort, das Rothe soeben verwendet hat, es ist doch nicht meines, es entspringt doch nicht meinem Denken, und wieso gebe ich überhaupt Britta die Schuld, nicht sie ist es doch, die mir diese Prüfung auferlegt, sondern die beiden hier sind es, was wollen sie eigentlich von mir, was kann denn überhaupt auf mich zurückfallen, nichts, ich habe damit nicht das geringste zu tun … keinen Fehler machen, ich darf jetzt nur keinen Fehler machen, muß abwarten, muß erstmal sehen, was sie von mir wollen …
Erik schob die Kopie des Gedichts wortlos zurück über den Tisch.
»Und?« fragte Rothe.
»Nicht so schön«, druckste Erik herum.
»Was ist nicht so schön?«
»Die ganze … die ganze Angelegenheit.« Plötzlich fiel ihm ein, Rothe hatte von Brittas ehemaliger Schule gesprochen. Hieß das, seine Schwester war dort nicht mehr? Jetzt, da er selber, bewußt nebulös, von Unschönem redete, erinnerte er sich daran, und er vergaß für einen Moment, daß man hier ganz offenkundig etwas von ihm wollte, und lenkte das Gespräch auf Britta: »Sie sagten gerade, ›die ehemalige Schule Ihrer Schwester‹. Was bedeutet das … bitte?«
»Es bedeutet, daß sie relegiert worden ist. … Sie schütteln den Kopf – sind Sie vielleicht nicht einverstanden mit dieser Relegation?«
Erik seufzte leise: »Was heißt einverstanden? Ich … mir tut meine Schwester leid … vielleicht verstehen Sie das?« Er blickte Rothe bittend an.
»Das verstehen wir, aber ja«, warf die Mama leise ein.
Rothe strafte sie mit einem ungeduldigen Blick, sagte zu Erik, und wohl auch zu ihr: »Lassen wir diese Sentimentalitäten. Ich will«, er korrigierte sich, »wir wollen von Ihnen wissen, ob Sie trotz der Gefühle, die Sie Ihrer Schwester entgegenbringen, sich angesichts ihrer Tat von ihr zu distanzieren bereit sind.« Er schaute Erik mit steinernem Gesichtsausdruck an.
»Sie wollen wissen, ob ich mich von meiner Schwester distanziere?« wiederholte Erik entsetzt.
Rothe nickte.
»Wozu … wozu wollen Sie das wissen?« Er fragte, weil es ihm nicht einleuchtete, vor allem aber, weil er Zeit zum Nachdenken gewinnen wollte.
Rothe griff nach seiner Uhr, sah darauf, legte sie wieder beiseite und entgegnete: »Daß ich Ihnen das auseinandersetzen muß! Sie möchten Außenhändler werden! Gerade ein Außenhändler braucht einen klaren Klassenstandpunkt, das dürfte Ihnen bekannt sein, das war schon immer so. Und heute ist es erst recht der Fall. Wir können es uns gerade in dieser Zeit der verschärften Auseinandersetzungen mit dem Gegner nicht leisten, Leute in die Welt hinauszuschicken, bei denen verschwiemelte oder gar offen feindliche Gedanken Eingang gefunden haben, Leute, die dann unweigerlich Gefahr laufen würden, schon den kleinsten und törichsten Versuchungen zu erliegen. Bisher, das will ich Ihnen durchaus attestieren, hatten wir da bei Ihnen keine Zweifel. Aber nun – nun hat sich die Lage geändert. Wir wollen und müssen sichergehen, daß Sie nicht auf denselben gefährlichen Pfaden wandeln wie Ihre Schwester. Wir hätten gern einen Beweis Ihres, wie wir doch hoffen wollen, nach wie vor klaren Standpunktes.«
Erik schloß die Augen. Mochte er ein kleiner Feigling und ein großer Zauderer sein, ein anständiges Gewissen hatte er doch, und so fiel es ihm nicht ein zu kalkulieren, ich gebe Rothe jetzt, was er will, es bedeutet nichts, es ist nur eine klitzekleine, am nächsten Tag schon wieder vergessene
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