Brüder und Schwestern
Notwendigkeit. Vielmehr quälte er sich mit der Vorstellung, Britta, die er für völlig unschuldig hielt, in den Rücken zu fallen und es nie wiedergutmachen zu können. Ihm kam in diesem Augenblick sogar das Wort »Beschmutzen« in den Sinn.
»Und ohne einen solchen Beweis?«
»Werden wir Sie exmatrikulieren müssen«, antwortete Rothe ungerührt, während die Mama betreten zu Boden sah.
Da vergaß Erik für einen Moment seine Vorsicht: »Das ist ja Sippenhaft! Das ist ja wie …«
»Wie bei den Nazis?« unterbrach Rothe ihn, »wie bei den Nazis?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber gedacht, nicht wahr? Dazu nur eines: Die Nazis haben Menschen, die Flugblätter abgeworfen haben, stranguliert, ich sage nur, Geschwister Scholl. Wir aber sorgen dafür, daß sich so etwas niemals mehr wiederholt. Nicht hier bei uns. Wir wehren den Anfängen.«
O diese Phrasen, sie erdrückten Erik geradezu, sie machten ihn hilflos und panisch. In den Lehrbüchern las er über solche und andere Parolen immer hinweg, er hatte, wie die große Mehrheit seiner Kommilitonen, eine Art Überflug-Technik entwickelt, er nahm die Versatzstücke wahr, ohne sich je bei ihnen aufzuhalten oder gar über sie nachzudenken. Jetzt aber funktionierte das nicht. Man hatte ihn in die Enge getrieben, einzig und allein mit Parolen. Wie Felsbrocken lagen die auf seiner Brust.
Auf einmal überfiel ihn die Angst, Rothe werde das Verfahren abkürzen und ihn gleich von der Uni werfen, denn hatte er, Erik, sich jetzt nicht schon viel zu lange gesträubt, Britta öffentlich zu kritisieren? Er war fast erleichtert, als er vom Direktor mit erkennbar ungeduldiger Geste ein zweites Mal ein Blatt Papier über den Tisch gereicht bekam.
Darauf standen nur zwei Sätze: »Hiermit distanziere ich, Erik Werchow, mich entschieden von meiner Schwester Britta, die versucht hat, das staatsfeindliche Gedicht Als wir ans Ufer kamen zu verbreiten. Ihre Tat verurteile ich zutiefst.«
Erik überlegte angestrengt, er überschlug, ob er in Verhandlungen über die Wörter »entschieden« und »zutiefst«, die ihm besonders hart und falsch erschienen und ihn daher auch besonders schmerzten, treten sollte. Jedoch gelangte er recht schnell zu dem Schluß, daß sich selbst im – äußerst unwahrscheinlichen – Falle einer erfolgreichen Intervention an der Substanz des Schriftstücks ja gar nichts ändern würde, und so blieb er stumm. Tatsächlich scheute er sich vor den Verhandlungen selber. Er wollte Rothe nicht über Gebühr reizen, wollte der Gefahr entgehen, für nichts und wieder nichts exmatrikuliert zu werden, genau, für nichts und wieder nichts, denn hatte er vielleicht irgend etwas Anstößiges getan? Hastig unterschrieb er das Papier, sich nicht im mindesten daran erinnernd, daß er vor einigen Jahren in vergleichbarer Not schon einmal eines unterschrieben hatte, mit dem er überhaupt nicht einverstanden gewesen war.
Am Ende, vor dem Verlassen des Raumes, reichte er nicht nur der Mama, sondern auch Rothe freundlich die Hand, eine Geste, die er in diesem Moment für angemessen hielt, die ihn aber, kaum daß er die Tür hinter sich zugezogen hatte, fast noch mehr grämte als der vermaledeite Kringel auf dem Blatt, war sie doch ganz und gar freiwillig erfolgt.
*
Da es Freitag war und die Vorlesung, die letzte des Tages, schon zu lange lief, als daß es sich für ihn gelohnt hätte, sich jetzt noch dort hineinzusetzen, fuhr er nach Gerberstedt. Er hatte es ohnehin geplant, er nahm nur einen früheren Zug.
Die Folge war, daß er daheim niemanden vorfand. Willy rackerte wie gehabt im »Aufbruch«, Ruth saß noch in der Sparkasse, Matti schwirrte wohl mit Jonas herum, und was Britta trieb, nun, das wußte Erik nicht. Als erstes nahm er die dreckige Wäsche aus seiner Tasche, brachte sie in den Keller und legte sie in den Korb vor der Waschmaschine. Dann stieg er wieder nach oben. Langsam durchstreifte er das Haus, er öffnete jede einzelne Tür und blickte lange in die Zimmer – und das tat er einzig und allein deshalb, um das elende Gefühl loszuwerden, er sei jetzt hier ein Aussätziger. Ihm schien, als habe er sich mit der Unterschrift gewissermaßen aus dem Haus katapultiert, er kam sich vor wie jemand, der das Recht verwirkt hatte, hier noch ein und aus zu gehen. Aber er wollte weiter hierhergehören! Er wollte die alte Geborgenheit zurück! In der Küche angelangt, erinnerte er sich mit dumpfer Wehmut, wie sie alle wochentags lange vor sieben Uhr hier immer
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