Brüder und Schwestern
Zeitpunkt verpaßt, da wir über unser Zerwürfnis noch hätten reden können. Der eigentliche Anlaß liegt nämlich schon zu lange zurück. Er ist nichtig geworden und im Grunde schon lächerlich. Wir würden ihm nur neue Bedeutung verleihen, wenn wir ihn nochmal erwähnten. Aber ihn nicht zu erwähnen, ist auch unmöglich, wir können ja nicht so tun, als hätte es ihn nicht gegeben. Also lassen wir alles unverändert, also regen wir uns nicht. Tja, Achim, so verhält sich’s, so wird aus dem Schweigen, das einem am Anfang völlig unnatürlich und falsch erschienen ist, Normalität.«
»Es ist immer noch unnormal, mach dir nichts vor.«
»Ich mache mir nichts vor. Ich weiß doch, das Schweigen ist unnormal, ich sage dir nur, ich gewöhne mich dran.«
Entschieden und zutiefst
Vier Tage nachdem Britta als diejenige identifiziert worden war, die das Gedicht an die Wandzeitung gepinnt hatte, wurde Erik in Leipzig zur Leitung seiner Sektion gerufen. Er studierte Außenhandel, selbstverständlich, und schon im sechsten Semester jetzt, warum auch nicht? Er war doch damals bei der Armee durchaus bereit gewesen, drei Jahre zu dienen, ja schwarz auf weiß war nachlesbar, daß er dazu bereit gewesen war und bloß gewisse Umstände, für die er nun wirklich nicht verantwortlich gemacht werden konnte, dies verhindert hatten.
Als er sich von den Seminarräumen auf den Weg zum Hochhaus machte, wo die Sektionsleitung ihren Sitz hatte, überlegte er angestrengt, ob er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, ganz langsam ging er deswegen. Ihm fiel absolut nichts ein, und doch spürte er plötzlich sein Herz rasen. Er ahnte, es drohte Ärger, schließlich war es jetzt 11 Uhr, und er hätte in der Vorlesung über Marxismus-Leninismus sitzen müssen, aber soeben, nach dem Seminar über Wirtschaftsrecht, hatte ein Assistent ihn abgepaßt, um ihn mit ernster und bedeutender Miene aufzufordern, sofort sich ins Hochhaus zu begeben, das war ungewöhnlich, das war sogar alarmierend.
Er trat in den angegebenen Raum, und nahezu zeitgleich fuhren ein Mann und eine Frau zu ihm herum, die nebeneinander am Fenster gestanden hatten. Es waren der stellvertretende Sektionsdirektor Dieter Rothe, ein vielleicht 60jähriger Mann mit asketischem Gesicht und Bürstenschnitt, und Christel Daune, Eriks Seminargruppenbetreuerin, eine kleine, pummelige Frau mit blonden Locken und einem rosigen Gesicht, das immer glänzte, als sei es mit Speckschwarte eingerieben. Solange Erik hier schon studierte, war sie noch nie laut geworden. Im Gegenteil, oft, und selbst in den gewöhnlichsten Situationen, machte sie einen still erstaunten, gerührten Eindruck, wie eine Mutter, deren Kinder ihr gerade eine überraschende Freude bereitet haben. Und so wurde sie hinter ihrem Rücken von den Studenten, ein wenig belustigt, ja fast peinlich berührt, auch genannt: Mama.
Jetzt erleichterte es Erik ungemein, sie zu sehen. Er versuchte, in ihrem Blick zu lesen. Sofern er sich nicht täuschte, entdeckte er so etwas wie Aufmunterung und Mitleid darin.
Rothe sah auf seine Armbanduhr und zog die Stirn kraus, Erik anzeigend, es sei durchaus auffällig, und kritikwürdig, wie lange er gebraucht habe, um hier oben zu erscheinen. Dann wies er ihm wortlos einen Platz an dem kahlen, polierten Konferenztisch zu und setzte sich, wie auch die Mama, ihm gegenüber.
»Sie ahnen, warum wir Sie hergebeten haben?« fragte Rothe, wobei er scheinbar gedankenverloren seine Uhr abband und vor sich auf den Tisch legte. Erik erinnerte das an Verhörszenen in diversen Krimis. Es erschien ihm albern, eine billige Nachahmung. Zugleich flößte es ihm aber Furcht ein.
»Nein«, antwortete er mit belegter Stimme.
»Nananana«, sagte Rothe, wobei er leise begann und mit den folgenden Zungenschlägen immer lauter wurde. Offenbar glaubte er Erik nicht.
»Wann haben Sie denn das letzte Mal Kontakt mit Ihrer Schwester gehabt?« erkundigte er sich.
Erik wollte zurückfragen, warum das von Interesse sei, doch er getraute sich nicht, und so antwortete er: »Vor drei Wochen, da war ich übers Wochenende zu Hause.« Und tatsächlich hatte er von dem, was in den Tagen zuvor in Gerberstedt passiert war, nicht die geringste Ahnung, denn während der sich überschlagenden Ereignisse war es daheim niemandem in den Sinn gekommen, ihn zu informieren.
»Dann wissen Sie also nicht, daß Ihre Schwester an ihrer Schule, genauer gesagt, an ihrer ehemaligen Schule, ein staatsfeindliches Gedicht verbreitet
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