Brüder und Schwestern
gefrühstückt hatten, noch ganz verschlafen, und einsilbig, nur Willy hatte dann und wann ein Wort in die Runde geworfen, ein Abschiedswort, bevor er aufsprang und in seinen Betrieb eilte; still und stumm, die Blicke ins Nirgendwo gerichtet, vertilgten sie ihre Brötchen, und Ruth schaute ihnen dabei aus müden, starren Augen zu, sie legte Wert darauf, daß sie anständig aßen, bevor sie in die Schule gingen, und ließ es sich nicht nehmen, ihnen, während sie schwerfällig kauten, die Schulbrote zu schmieren; können wir doch selber, bleib doch noch liegen in deinem Bett, hatten sie, als sie schon älter waren, ihr mehrmals angeboten, mit Bedacht, denn sie wollten selber später aufstehen und dann, husch husch, ein paar Bissen im Stehen nehmen, aber: Solange ihr in die Schule geht, setze ich mich zu euch und schmiere eure Bemmen, hatte ihre Mutter immer geantwortet, und so war den Geschwistern die morgendliche Qual geblieben – eine Qual, die Erik heute aber überhaupt nicht mehr als solche empfand. Vielmehr erschien ihm im nachhinein alles wie ein strahlendes Glück, denn warum waren sie in Wahrheit wortlos gewesen? Warum hatten sie wortlos bleiben können ? Weil sie sich aufgehoben gefühlt hatten in ihrem kleinen Kreis, gewiß, es war ein unauslöschliches Zeichen von Vertrautheit und von Liebe, daß sie tatsächlich hatten schweigen können in einer Stunde, in der nichts über Schweigen geht.
Nun erschien aber Britta. Sie steckte in Gummistiefeln und stank wie ein Wiedehopf.
»Nicht«, rief sie, als Erik sie umarmen wollte, und obwohl er durchaus sah und roch, warum sie ihn abwehrte, und obwohl sie dabei herzhaft lachte, nahm er alles schon als Reaktion auf den Verrat, den er begangen hatte.
»Was stellst du denn nur an«, sagte er mit gequältem Gesichtsausdruck.
Britta band sich die Haare auf, die sie zum Zopf geflochten hatte, und antwortete leichthin: »Gar nichts stell ich an.« Sie schüttelte die Haare, und ein paar Strohhalme fielen zu Boden.
»Bist wohl unter die Bauern gegangen?« Erik versuchte, ihren lockeren Ton aufzunehmen.
Bauern? Plötzlich begriff Britta, daß er ja überhaupt nicht darüber Bescheid wußte, was sie jetzt tat. Sie drängte sich nun doch an Erik und bat um Verzeihung, ihn, »es ging alles so schnell, Bruderherz, heute noch hier, morgen schon dort«, nicht über die Neuigkeit informiert zu haben. Sie erzählte munter vom Zirkus, und wie sie so sprudelte, verblüffte sie Erik, der sicher gewesen war, seine Schwester nach ihrer Relegation todunglücklich vorzufinden, über die Maßen.
Britta hielt es für Skepsis, daß er ernst und düster blieb, und versuchte, ihm die auszutreiben: »Glaub mir, es geht mir gut, ich lüge nicht, ich habe doch keinen Grund, dich anzulügen – oder habe ich dich jemals angelogen?«
Sie schaute ihn arglos an. Er wurde nun aber vollkommen düster. Angesichts der Unschuld und der Naivität seiner kleinen Schwester kam er sich um so schäbiger vor.
»Hej«, lachte Britta. Sie bückte sich, klaubte einen Strohhalm vom Boden und piekte ihm damit auf die Stirn.
Und da beschloß Erik, so schnell wie möglich zu erzählen, was in Leipzig geschehen war. Die ganze Bahnfahrt über hatte er mit sich gerungen, hatte sich mal verpflichtet gefühlt, schonungslos mit allem herauszurücken, und sich dann wieder mit dem Gedanken beruhigt, wenn er einfach den Mund hielte, würde niemand aus der Familie je etwas erfahren. Aber daß niemand von der Sache erfuhr, so begriff er jetzt, hieß ja nicht, daß sie ihn nicht beschwerte. Und wie sie ihn beschwerte. Er mußte Britta beichten, und nicht nur ihr, sondern allen Werchows, denn erst, wenn alle eingeweiht waren, würde sich seine frühere Ungezwungenheit wieder einstellen können. Und so fieberte er in den folgenden Minuten und Stunden geradezu, auch die anderen mögen endlich eintreffen, und als, wie gewohnt, nur noch Willy fehlte, machte er sich bei Ruth fast schon verdächtig, indem er sie mit der Frage überfiel, wann genau denn mit seinem Vater zu rechnen sei – als ob Ruth das je hätte beantworten können!
*
Endlich waren alle beisammen. Wie immer, wenn Erik übers Wochenende heimkam, kochte Ruth etwas, das er besonders gern aß, diesmal Kaßler mit Sauerkraut. Noch machte sie sich am Herd zu schaffen, noch hatte nicht jeder am Tisch mit der gekerbten Platte Platz genommen, da räusperte sich Erik, der an der Fensterbank lehnte, und sagte mit leiser Stimme, er habe etwas Unangenehmes zu
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