Brüder und Schwestern
alles gemerkt.
Stille trat ein. Nach ein paar Sekunden aber geschah etwas, das die Anwesenden geradezu bestürzte. Matti verfiel erst in ein Zittern, als habe er Schüttelfrost, und dann in ein hemmungsloses Weinen, wie es eigentlich nur Kleinkindern eigen ist. Während des Atemholens keuchte er schwer verständliche Satzfetzen, doch das, was die anderen heraushören konnten, versetzte sie in noch größere Betroffenheit: »… wie widerwärtig … man kann nur voller Ekel sein … seine eigene Schwester, Scheiße, Scheiße, Scheiße … verurteile ich zutiefst … auch noch zutiefst … so einen lieben, lieben Menschen … Britta kann man doch nicht … sein eigen Fleisch und Blut … das Gebot zu verletzen, wer wagt sich … wer wagt sich …«
Erik hörte ihm mit leichenblasser Miene zu. Ruth faltete, rollte und knüllte mit flatternden Händen die Topflappen, auch ihr flossen die Tränen. Britta machte mehrmals Anstalten, zu Matti zu stürzen, hielt sich aber jedesmal zurück. Den ungewöhnlichsten Anblick bot indes Willy. Auch ihm, der doch überhaupt nicht nah am Wasser gebaut hatte, waren die Augen feucht geworden, und außerdem hatte er getan, was Britta unterlassen hatte: Er war, wohl ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein, auf Matti zugetreten. Mit einem leidenden Gesichtsausdruck, den niemand im Raum, nicht einmal Ruth, je an ihm gesehen hatte, stand er vor seinem jüngeren Sohn.
Und er stand da so, weil jedes einzelne Wort seine Panzerungen durchbohrt hatte und in sein Innerstes gedrungen war; voller Schmerz sah er auf einmal klar und deutlich, wie die Dinge lagen, sah alles, was er verdrängt hatte. Matti hatte mit jeder Silbe recht! Man tat so etwas nicht! Nie hätte Erik das tun dürfen! Und doch traf ihn keine Schuld, denn letztlich war er, Willy selber, es gewesen, der ihn in langen Jahren dazu gebracht hatte, so zu handeln. Letztlich hatte er ihn gelehrt, wie man Kompromisse schloß. Geradezu vorgelebt hatte er es ihm doch. Willy begriff jetzt, daß Erik als einziges seiner Kinder ihm gefolgt war aufs Feld des Abzirkelns und Erwägens – und jetzt, da er es begriff, schoß plötzlich Ablehnung, und sogar Verachtung, in ihm auf. Ja, er verachtete in diesem Augenblick Erik, er verachtete denjenigen seiner Söhne, der es ihm recht gemacht hatte und immer recht machen würde, während er den anderen, den Widerborstigen, stärker denn je liebte. Willy überkam der dringende Wunsch, mit Matti allein zu reden, ihn zu liebkosen für seine ganze Eigenheit und Entschiedenheit, und es war ihm egal, daß er Erik damit von sich stieß, in dieser Sekunde der aufblitzenden Geringschätzung spielte es keine Rolle für ihn.
»Laß uns draußen eine Runde drehn«, nickte er Matti zu.
Der wußte nicht so recht, was er davon halten sollte, und rührte sich kein bißchen.
»Na komm schon.«
Matti schneuzte sich und folgte ihm. Sie zogen sich die Jacken über, traten aus dem Haus und gingen die leise gurgelnde Schorba entlang, wortlos zunächst. Längst war es dunkel geworden. Der Halbmond stand blendend weiß und mit perfekter Rundung, als wär’s die Hälfte eines sauber durchtrennten Camemberts.
Sie ließen die kleine Brücke mit dem abgewetzten Holzgeländer, die in die Stadt führte, links liegen und folgten weiter dem Uferweg. Und noch immer sagte keiner von beiden einen Ton. Der eine, Matti, schwieg, weil er sich nach seinem Ausbruch leer und erschöpft fühlte; und der andere, Willy, schwieg, weil er noch nicht wußte, wie er die Unterhaltung einleiten und wohin er sie überhaupt führen sollte.
Endlich sagte Willy: »Du hast von einem Gebot gesprochen, Gebot, ein Wort, das eigentlich gar nicht vorkommt bei uns …« Und schon verstummte er wieder.
»Du meinst, es ist für die Kirche reserviert«, sagte Matti mit leiser, brüchiger Stimme.
»Ja. Dabei ist es ein Wort, das uns genauso zusteht und das wir genauso nötig haben …«
Matti wußte nicht, ob sein Vater ihre Familie meinte oder, viel weiter gefaßt, den Staat, für den er letztlich arbeitete, aber das würde sich schon zeigen, er unterbrach ihn nicht.
»… und zwar haben wir es nötig, weil es die einfachen Wahrheiten benennt und weil wir verlernt haben, uns nach diesen einfachen Wahrheiten zu richten. Ja, wir drehen und wenden die Dinge fünfmal hin und her, wir taktieren und paktieren, wir nehmen dauernd Rücksicht, wir nicken verständnisvoll, wenn die aktuelle politische Lage es wieder mal nicht zuläßt, etwas Notwendiges
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