Brüder und Schwestern
auszusprechen, und am Ende wissen wir gar nicht mehr, wo uns der Kopf steht. Ganz kirre sind wir schon. Dabei ist es so einfach. Man muß zurück zu den klaren Entscheidungen. Zur … Menschenmoral. Zur Beantwortung der ursprünglichen Fragen: Was ist gut, was ist schlecht? Wo fühle ich mich wohl, wo fühle ich mich unwohl? Nutze ich, oder schade ich? Gewiß, eigentlich sind es immer nur ein paar ganz einfache Fragen, die man sich beantworten sollte, und das – das habe ich vergessen, Matti. Oder ich habe nicht den Mut gehabt, sie mir zu beantworten. … Ja. … Jetzt, da ich darüber nachdenke, glaube ich, es erfordert viel mehr Mut, sich die einfachen Fragen zu beantworten als die komplizierten. Weil du nämlich auf die komplizierten immer auch kompliziert antworten kannst, verworren, mit diesem ewigen Einerseits und Andererseits. Und am Ende hast du alles verwaschen. Nur Einerseits! Oder nur Andererseits! Deutlich! Ohne Umschweife benennen! Gut oder schlecht! Auch wenn es weh tut, auch wenn es schwer ist …«
Es war, als nehme Willy sich gerade selbst an die Kandare und versuche sich das, was ihm verlorengegangen war, unbedingt neu einzuimpfen. Allerdings wirkte das auf Matti nur wie eine Selbstkasteiung. Ein Gefühl der Peinlichkeit überfiel ihn, und er zeigte durch ein Räuspern an, Willy unterbrechen zu wollen.
Der aber ließ seinen Sohn nicht zu Wort kommen, der steigerte sich noch weiter in seine Gedanken hinein: »Matti, du hast diese wunderbare Klarheit! Es ist die gleiche Klarheit, die dein Großvater gehabt hat. Und Erik hat sie nicht. Aber denk deswegen nicht schlecht über ihn, hörst du, denk nicht schlecht. Frag lieber, warum er sie nicht hat. Wenn du das fragst, antworte ich dir nämlich, daß er sie gar nicht haben kann. Wir haben sie ihm wegerzogen …«
»Jetzt ist aber gut!« begehrte Matti auf. Er rief es, sein Gesicht von Willy abwendend, zornig in Richtung des Flusses, aus dem ein paar vom Mond erleuchtete Steinbuckel ragten, und machte auch einen Schritt von Willy weg, so unangenehm waren ihm das Lob und die nicht enden wollende Selbstbezichtigung. »Das ist doch Unfug, was du mir da beibringen willst. Entschuldige bitte, aber wenn es deine oder eure Erziehung gewesen sein soll – warum sind wir dann heute so unterschiedlich? Wir müßten gleich sein. Ich dürfte die Klarheit sowenig haben wie Erik. Wenn ich aber, wie du eben sagtest, sie habe und er nicht, dann liegt es ja wohl an jedem von uns selber, wie er sich verhält. Wir sind mittlerweile längst alt genug, wir haben längst alles selber in der Hand, und er, weil er der Ältere ist, doch wohl noch mehr als ich.«
»Das will dir so scheinen«, erwiderte Willy. »Doch ich sage dir, du irrst. Paß auf, ich erzähle dir eine Geschichte, eine ziemlich lapidare Geschichte, mit der du zunächst wahrscheinlich nicht viel anfangen können wirst. Aber im Anschluß werde ich dir sagen, warum ich sie dir erzählt habe – und dann wirst du hoffentlich alles besser verstehen. Sie spielt am Abend des Tages, an dem Britta geboren wurde. Du schläfst schon, als ich aus dem Krankenhaus komme; Erik ist noch wach, liegt aber auch schon im Bett. Er ist fünf Jahre alt damals. Jeder von euch hat bis zu diesem Zeitpunkt im Obergeschoß ein eigenes Zimmer, erinnerst du dich? … Nicht? Na, kein Wunder, du warst ja keine drei. Jedenfalls, ich gehe zu ihm und erkläre ihm, daß er ein Schwesterchen gekriegt hat. Er freut sich sehr, er richtet sich sogar auf und umarmt mich fest, er hängt sich geradezu an mich. Da sage ich ihm noch etwas, nämlich, daß sein Schwesterchen nun ein eigenes Zimmer braucht und er deswegen seines frei machen und zu dir ziehen muß, schon morgen; ich sag’s ihm, noch während er an mir hängt. Ich spüre, wie sich seine Hände an meinem Hals verkrampfen. Ich löse sie, lege ihn sachte zurück ins Bett, seine Oberlippe beginnt zu beben, er will nicht weinen, keinesfalls will er das, aber nach einigen Sekunden des heldenhaften Kampfes schießen ihm doch die Tränen in die Augen. Weinend fragt er mich, wo er denn jetzt spielen soll, wenn er nicht mehr sein Zimmer hat. Ich mache auf Frohsinn – du weißt, jene Art Frohsinn, die selbst ein Fünfjähriger sofort durchschaut – und weise ihn auf die kleine hüfthohe Kammer hin, die von deinem Zimmer unter der Dachschräge abgeht. Das kann deine Höhle werden, Erik, sage ich aufmunternd. Aber er weint nur um so mehr. Ich sage ihm, daß ich ihn verstehe, es aber nicht anders
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