Brunetti 01 - Venezianisches Finale
tot, vielleicht auch zwei. Und es dauerte noch einen Tag, bevor ich davon erfuhr. Ich stand unter Hausarrest, aber Freunde kamen und erzählten es mir. Ich bin aus dem Haus gegangen. Ich musste erst einen Polizisten schlagen, ihn niederschlagen und ins Gesicht treten, um hinauszukommen. Aber ich bin gegangen. Und keiner, keiner von denen, die gesehen haben, wie ich ihn trat, keiner hat ihm geholfen. Ich bin mit meinen Freunden hingegangen. Zum Hotel. Alles Nötige war schon getan und wir haben sie noch am selben Tag beerdigt. Kein Priester kam, wegen der Art ihres Todes, also haben wir sie einfach beerdigt. Das Grab war sehr klein.« Ihre Stimme verebbte, von der Macht der Erinnerung fortgespült.
Er hatte das schon oft erlebt und war darum klug genug, sich ruhig zu verhalten. Sie hatte angefangen zu erzählen und würde nicht aufhören können, bis sie alles gesagt und sich davon befreit hatte. Er wartete geduldig, ging mit ihr in die Vergangenheit zurück.
»Wir haben sie ganz in Weiß gekleidet. Und dann haben wir sie in diesem kleinen Grab beerdigt. In diesem winzigen Loch. Nach der Beerdigung bin ich in meine Wohnung zurückgegangen und sie haben mich verhaftet. Aber da ich sowieso schon verhaftet war, spielte es keine Rolle. Ich habe mich nach dem Polizisten erkundigt und man hat mir gesagt, dass er nicht weiter verletzt sei. Ich habe mich bei ihm entschuldigt, als ich ihn später wieder sah. Nach dem Krieg, als die Alliierten in der Stadt waren, hat er sich einen Monat in meinem Keller versteckt, bis seine Mutter ihn holte. Ich hatte keinen Grund, ihn zu verabscheuen oder ihm etwas antun zu wollen.«
»Wie ist es dazu gekommen?«
Sie sah ihn verwirrt an, diesmal verstand sie wirklich nicht.
»Ihre Schwester und Wellauer?«
Sie fuhr sich über die Lippen und blickte auf ihre verkrüppelten Hände zwischen den Schals. »Ich habe sie bekannt gemacht. Er hatte gehört, wie meine Laufbahn angefangen hatte und als sie nach Deutschland kamen, um mich singen zu hören, bat er mich, sie ihm vorzustellen, Clara und die kleine Camilla.«
»Waren Sie zu dem Zeitpunkt mit ihm zusammen?«
»Meinen Sie, ob er mein Liebhaber war?«
»Ja.«
»Das war er. Es begann, fast unmittelbar nachdem ich hinkam, um dort zu singen.«
»Und seine Affäre mit Ihrer Schwester?«, fragte er.
Ihr Kopf flog zurück, als hätte er sie geohrfeigt. Sie beugte sich vor und Brunetti dachte schon, sie wolle nach ihm schlagen. Stattdessen spuckte sie. Ein dünnes, wässriges Tröpfchen landete auf seinem Oberschenkel und versickerte langsam im Stoff seiner Hose. Er war zu verblüfft, um es wegzuwischen.
»Verdammtes Pack. Ihr seid alle gleich. Immer noch alle gleich«, schrie sie mit wütender, krächzender Stimme. »Ihr seht etwas und findet den Dreck, den ihr sucht.« Ihre Stimme wurde lauter und sie wiederholte höhnisch seine Worte: »Seine Affäre mit meiner Schwester. Seine Affäre.« Sie beugte sich näher zu ihm, die Augen hasserfüllt zusammengekniffen und flüsterte: »Meine Schwester war zwölf. Zwölf Jahre alt. Wir haben sie in ihrem Kommunionkleid begraben, so klein war sie noch. Sie war ein Kind. Er hat sie vergewaltigt, Signor Commissario. Er hatte keine Affäre mit meiner kleinen Schwester. Er hat sie vergewaltigt. Beim ersten Mal und all die anderen Male, hat er ihr gedroht, er würde mir erzählen, was sie für ein schlechtes Mädchen sei. Und dann, als sie schwanger war, hat er uns beide nach Rom zurückgeschickt. Und ich wusste nichts davon. Denn er war immer noch mein Liebhaber. Mit mir ins Bett gehen und dann meine kleine Schwester vergewaltigen. Verstehen Sie jetzt, Commissario, warum ich froh bin, dass er tot ist und warum ich sage, dass er es verdient hat?«
Ihr Gesicht war verzerrt von der Wut, die sie ein halbes Jahrhundert mit sich herumgetragen hatte.
»Wollen Sie alles wissen, Commissario, ja?«
Brunetti nickte, verstand.
»Er kam nach Rom zurück, um jene Aufführung von Norma zu dirigieren. Und sie sagte ihm, dass sie schwanger sei. Uns hatte sie aus lauter Angst nichts davon erzählt. Angst, wir würden ihr sagen, was sie für ein schlechtes Mädchen sei. Er arrangierte also die Abtreibung und brachte sie hin und anschließend in das Hotel. Und da hat er sie allein gelassen und sie ist verblutet. Und als sie starb, war sie immer noch erst zwölf.«
Er sah ihre Hand aus dem Wust der Schals und Tücher hervorkommen, sah sie zu ihm empor fahren. Er nahm nur den Kopf ein wenig zurück und der Schlag
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