Brunetti 01 - Venezianisches Finale
er sich nicht einmal dafür interessiert hatte, ob Flavia Petrelli eine eigene Wohnung in der Stadt besaß, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, ihr Verhalten sowohl vor wie nach Wellauers Tod zu untersuchen. Konnte man ihn so leicht hinters Licht führen? Unterschied er sich überhaupt von allen anderen Männern - ein hübsches Gesicht, ein paar Tränen, der Anschein von Intelligenz und Aufrichtigkeit und schon verwarf er die Möglichkeit, dass ein solches Wesen jemanden umgebracht haben könnte oder jemanden liebte, der das getan hatte?
Es gab ihm zu denken, wie leicht er sich von dieser Frau hatte entwaffnen lassen. Er zog ein paar Scheine aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Ja, das ist eine gute Idee«, sagte er schließlich, schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
Er spürte, dass sie plötzlich unsicher geworden war, als sie sah, wie er so unvermittelt vom Freund zum Fremden wurde. Er konnte es noch nicht einmal besonders gut. »Kommen Sie, ich begleite Sie bis San Giovanni e Paolo.« Draußen schob er, da es Nacht und für ihn Gewohnheit war, beim Gehen seinen Arm unter den ihren. Sie schwiegen beide. Ihm wurde bewusst, wie weiblich sie sich anfühlte, wie ihre Hüfte sich wölbte, wie angenehm es war, wenn sie sich enger an ihn drückte, um Entgegenkommenden auf den schmalen Straßen auszuweichen. All das bemerkte er, während er sie nach Hause begleitete zu ihrer Geliebten.
Unter dem Reiterstandbild Colleonis sagten sie sich gute Nacht, nichts weiter, nur ein schlichtes ›Gute Nacht‹.
23.
Brunetti ging durch die stille Stadt nach Hause, aufgewühlt durch das, was er eben gehört hatte. Er hatte immer geglaubt, von Liebe etwas zu verstehen, schon durch sein Leben mit Paola. War er denn so konventionell, dass die Liebe dieser Frau - denn Liebe war es zweifellos - ihm derart fremd bleiben musste, nur weil sie nicht mit seinen Vorstellungen übereinstimmte? Dann verwarf er das alles als Sentimentalität übelster Sorte und konzentrierte sich auf die Frage, die er sich schon in der Bar gestellt hatte: ob seine Sympathie für diese Frau, die Tatsache, dass er sich durch irgendetwas zu ihr hingezogen fühlte, ihn blind gemacht hatte für seine eigentliche Aufgabe. Flavia Petrelli schien ihm einfach nicht der Mensch zu sein, der kaltblütig jemanden umbringen würde. Er zweifelte nicht daran, dass sie in einem Augenblick der Erregung oder Leidenschaft fähig sein würde, jemanden zu töten; das sind die meisten Menschen. Aber bei ihr wäre es wohl eher ein Messer zwischen die Rippen oder ein Stoß die Treppe hinunter, nicht Gift, das man kühl, fast leidenschaftslos verabreichte.
Wer dann? Die Schwester in Argentinien? War sie zurückgekehrt und hatte Rache für den Tod ihrer älteren Schwester genommen? Nach fast einem halben Jahrhundert? Der Gedanke war absurd.
Wer also? Nicht Santore, der Regisseur. Nicht eines Freundes wegen, dessen Vertrag nicht zustande kam. Santore hatte nach so vielen Jahren des Theaterlebens sicher genug Verbindungen, um seinem Freund eine Rolle zu verschaffen, selbst wenn dessen Talent noch so bescheiden war. Selbst wenn er überhaupt kein Talent hatte.
Blieb die Witwe, aber sein Instinkt sagte Brunetti, dass ihre Trauer echt war und ihr mangelndes Interesse an der Ermittlung des Täters nichts mit Selbstschutz zu tun hatte. Überhaupt schien sie allenfalls den Toten schützen zu wollen und das führte Brunetti wieder an den Anfang zurück, dass er nämlich mehr über die Vergangenheit dieses Mannes erfahren wollte und musste, über seinen Charakter, über den Riss in seiner sorgsamen Pose moralischer Redlichkeit, der jemanden dazu gebracht haben könnte, ihm Gift in den Kaffee zu tun.
Es machte Brunetti zu schaffen, dass Wellauer ihm nicht sonderlich sympathisch war und er nicht das Mitgefühl und den Zorn aufbringen konnte, die er sonst für den empfand, dem man das Leben genommen hatte. Er konnte sich nicht davon frei machen, dass Wellauer - viel deutlicher vermochte er es nicht auszudrücken - auf irgendeine Weise in seinen eigenen Tod verwickelt war. Er schnaubte wütend; jeder ist in seinen eigenen Tod verwickelt. Aber so sehr er sich auch bemühte, der Gedanke ließ sich weder vertreiben noch klarer fassen und so suchte er weiter nach dem Detail, das diesen Tod provoziert haben konnte - und fand es nicht.
Der nächste Morgen war so trübe wie seine Stimmung. Im Lauf der Nacht war dichter Nebel aufgekommen, der von dem Wasser hochstieg, auf das die
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