Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Hängeschränkchen holte sie eine Tüte mit getrockneten Blättern, machte sie auf und schnüffelte daran: »Eisenkraut?«, fragte sie.
»Ja, ja«, antwortete er, zu müde, um sich dafür zu interessieren.
Sie warf eine Handvoll Teeblätter in die Keramikkanne, die schon seiner Großmutter gehört hatte. Dann kam sie zu ihm, stellte sich hinter seinen Stuhl und küsste ihn auf den Hinterkopf, genau auf die Stelle, wo sein Haar sich etwas zu lichten begann. »Was ist denn?«
»Im La Fenice. Jemand hat den Dirigenten vergiftet.«
»Wellauer?«
»Ja.«
Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und drückte sanft. Er fand es ermutigend. Jeder Kommentar war überflüssig. Sie wussten beide, dass die Presse eine Sensation aus dem Tod machen und lauthals nach einer schnellstmöglichen Ergreifung des Täters verlangen würde. Er oder Paola hätten die Leitartikel schreiben können, die am Morgen erscheinen würden, die wahrscheinlich in diesem Moment gerade geschrieben wurden.
Aus dem Kessel schoss eine Dampfsäule und Paola schüttete das Wasser in die angeschlagene Kanne. Wie immer empfand er schon ihre bloße Anwesenheit als wohltuend und es wirkte beruhigend auf ihn, wenn er zusehen konnte, mit welch sicherer Gewandtheit sie sich bewegte und arbeitete. Wie viele venezianische Frauen hatte Paola einen hellen Teint und das rotblonde Haar, das man so oft auf Porträts aus dem siebzehnten Jahrhundert sieht. Sie war nicht im eigentlichen Sinne schön mit ihrer etwas zu langen Nase und dem mehr als etwas zu energischen Kinn. Aber ihm war beides lieb.
»Schon irgendeinen Anhaltspunkt?«, fragte sie und stellte die Teekanne und zwei Becher auf den Tisch. Dann setzte sie sich ihm gegenüber, goss den aromatischen Tee ein, stand wieder auf und holte noch einen großen Topf Honig aus dem Schrank.
»Es ist noch zu früh«, sagte er, während er Honig in seinen Becher löffelte. Er rührte um, klickte dabei mit dem Löffel gegen den Becher und fügte im Rhythmus seines Klickens hinzu: »Da ist einmal die junge Ehefrau, dann eine Sopranistin, die mich belogen hat, sie hätte ihn nicht mehr gesehen, bevor er starb und ein schwuler Regisseur, der kurz vor seinem Tod eine Auseinandersetzung mit ihm hatte.«
»Vielleicht solltest du versuchen, die Geschichte zu verkaufen. Das hört sich ja an wie ein Fernsehkrimi.«
»Und ein totes Genie«, fügte er hinzu.
»Ja, das wäre hilfreich«, meinte Paola, nippte an ihrem Tee und blies in den Becher, um ihn abzukühlen. »Wie viel jünger ist sie denn, die Frau?«
»Sie könnte seine Tochter sein. Dreißig Jahre, würde ich sagen.«
»Okay«, sagte sie. Es war einer dieser Amerikanismen, mit denen ihr Vokabular durchsetzt war. »Dann war es die Ehefrau.«
Obwohl er sie schon oft gebeten hatte, es nicht zu tun, bestand sie darauf, gleich zu Beginn jeder seiner Ermittlungen einen Verdächtigen herauszupicken und meist irrte sie sich, denn sie entschied sich fast immer für die nächstliegende Person. Er hatte sie zweimal entnervt gefragt, warum sie das tat und sie hatte erklärt, dass sie sich seit ihrer Dissertation über Henry James berechtigt fühlte, das Offensichtliche im wirklichen Leben zu suchen, denn in seinen Büchern habe sie es nie gefunden. Brunetti konnte tun, was er wollte, sie traf ihre Wahl und war durch nichts zu bewegen, dabei etwas bedachtsamer vorzugehen.
»Das heißt«, meinte er, während er noch immer den Löffel im Becher kreisen ließ, »es wird sich herausstellen, dass jemand aus dem Chor es getan hat.«
»Oder der Butler.«
»Hmm«, räumte er ein und trank. Sie saßen noch ein Weilchen in geselligem Schweigen, bis der Tee ausgetrunken war. Dann trug er beide Becher zur Spüle und stellte die Teekanne vorsichtig daneben, damit sie nicht zu Schaden kam.
6.
Am morgen nach dem Tod des Dirigenten kam Brunetti kurz vor neun ins Büro und stellte fest, dass sich dort etwas beinah ebenso Ungeheuerliches ereignet hatte: Sein unmittelbarer Vorgesetzter, Polizeivizepräsident Giuseppe Patta, war bereits im Präsidium und verlangte schon seit einer halben Stunde nach ihm. Das teilte Brunetti zuerst der Portier am Eingang mit, dann ein Beamter auf der Treppe und schließlich die Sekretärin, die für ihn und die beiden anderen Commissari der Stadt arbeitete. Ohne sich sonderlich zu beeilen, sah Brunetti seine Post durch, rief bei der Telefonzentrale an, um zu hören, ob Anrufe für ihn gekommen seien und schritt dann die Treppe zum Büro seines Vorgesetzten
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