Brunetti 01 - Venezianisches Finale
hinunter.
Cavaliere Giuseppe Patta war vor drei Jahren nach Venedig geschickt worden, um neues Blut ins System der Kriminalpolizei zu bringen. In seinem Fall war das Blut sizilianisch und hatte sich als unvereinbar mit dem venezianischen erwiesen. Patta benutzte eine Zigarettenspitze aus Onyx und war gelegentlich mit einem Spazierstock mit silberner Krücke gesehen worden. Obwohl Brunetti erstere nur bestaunen und über letzteren nur lachen konnte, hatte er versucht, sein endgültiges Urteil zurückzustellen, bis er lange genug mit dem Mann zusammengearbeitet hatte, um zu entscheiden, ob er ein Recht auf diese Manieriertheiten hatte. Er hatte keinen Monat gebraucht, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Manieriertheiten zwar zu dem Mann passten, er aber kaum ein Recht darauf hatte. Zum Arbeitstag des Vizepräsidenten gehörte allmorgendlich eine lange Kaffeestunde, im Sommer auf der Terrasse des Gritti, im Winter bei Florian. Das Mittagsmahl nahm er gewöhnlich am Pool des Cipriani oder in Harry's Bar ein und gegen vier beschloss er meist, seinen ›verdienten Feierabend‹ zu machen. Kaum ein anderer hätte das so genannt. Brunetti hatte auch schnell gelernt, dass Patta stets als ›Vice-Questore‹ anzureden war, oder noch besser als ›Cavaliere‹, wobei die Herkunft letzteren Titels im dunkel blieb. Außerdem bestand Patta nicht nur auf seinem Titel, sondern auch auf dem förmlichen lei und überließ es dem Fußvolk, sich mit tu anzureden.
Patta ließ sich nicht gern durch die unschönen Einzelheiten von Verbrechen oder anderen derartigen Unappetitlichkeiten stören. Zu den wenigen Dingen, die ihn dazu bringen konnten, mit den Fingern durch die anmutigen Löckchen an seinen Schläfen zu fahren, gehörten Hinweise in der Presse, dass die Polizei ihre Pflichten in irgendeiner Weise lax handhabte. Was die Presse dabei für kommentierenswert hielt, spielte keine Rolle, sei es, dass ein Kind beim Besuch eines Würdenträgers durch den Polizeikordon geschlüpft war und dem Besucher eine Blume überreicht hatte, oder dass ihr der offene Drogenhandel afrikanischer Straßenverkäufer auffiel. Jede noch so kleine Andeutung, dass die Polizei die Stadt nicht mindestens im Würgegriff hätte, löste bei Patta eine Flut von Beschuldigungen aus, die sich hauptsächlich auf seine drei Commissari ergoss. Sein Zorn machte sich gewöhnlich in langen Aktennotizen Luft, in denen Unterlassungssünden der Polizei sich unendlich viel schrecklicher Ausnahmen, als von der kriminellen Bevölkerung tatsächlich begangene.
Patta hatte einen Vorschlag in der Presse aufgegriffen und eine Art ›Verbrechen mit Vorrang‹ eingeführt, wie er sich etwa einen besonders kalorienreichen Nachtisch vom Dessertwagen im Restaurant aussuchen würde. Er verkündete den Journalisten dann, dieses spezielle Verbrechen würde innerhalb der Woche ausgemerzt oder zumindest eingeschränkt. Brunetti musste immer, wenn er vom neuesten ›Verbrechen mit Vorrang‹ las - die Information entnahm er meist erst der Presse - an eine Szene aus Casablanca denken, in der befohlen wird, sich die ›üblichen Verdächtigen‹ vorzunehmen. Und so lief es dann auch: ein paar Jugendliche wurden zu einem Monat Gefängnis verurteilt, danach ging alles wieder seinen normalen Gang, bis die Presse erneut ihr Augenmerk auf etwas richtete und wieder ein ›Verbrechen mit Vorrang‹ provozierte.
Brunetti dachte oft darüber nach, dass die Kriminalitätsrate in Venedig wohl nur darum so niedrig war - sie gehörte zu den niedrigsten in Europa und war sicher die niedrigste in ganz Italien - weil die Verbrecher, bei denen es sich fast immer um Diebe handelte, schlicht nicht wussten, wie sie entkommen konnten. Nur ein Ortskundiger konnte sich in dem Spinnennetz aus schmalen Gassen zurechtfinden und schon vorher wissen, dass diese eine Sackgasse war oder jene an einem Kanal endete. Und die Venezianer, die Einheimischen, neigten zur Gesetzestreue und sei es nur, weil ihre Tradition und Geschichte ihnen großen Respekt vor Privatbesitz überliefert hatte, den es unter allen Umständen zu schützen und zu wahren galt. So gab es also wenig Verbrechen und wenn es zu einer Gewalttat oder sehr selten sogar zu einem Mord kam, war der Täter meist schnell und leicht gefunden: der Ehemann, der Nachbar, die Geschäftspartner. Man musste sich tatsächlich meist nur die üblichen Verdächtigen vornehmen.
Aber Wellauers Tod war etwas anderes, wie Brunetti sehr wohl wusste. Ein berühmter Mann,
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