Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Grund, warum Sie nicht fahren sollten«, sagte Brunetti und stand auf. »Wir brauchen nur eine Anschrift, unter der wir Sie erreichen können, aber die können Sie morgen im Theater einem meiner Leute geben.« Er streckte die Hand aus. Santore erhob sich ebenfalls und ergriff sie. »Vielen Dank für den Cognac«, sagte Brunetti, »und viel Glück mit dem Agamemnon.« Santore bedankte sich mit einem Lächeln und Brunetti ging ohne ein weiteres Wort.
5.
Brunetti beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen, um den sternenübersäten Himmel und die verlassenen Calli zu genießen. Er blieb einen Augenblick vor dem Hotel stehen und überlegte, welches der kürzeste Weg sei. Wie jeder Venezianer hatte er den Stadtplan im Kopf und er erkannte, dass der kürzeste Weg für ihn über die Rialtobrücke führte. Er ging über den Campo San Fantin und in das Labyrinth der kleinen Gässchen, die auf die Brücke zuführten. Unterwegs begegnete er keinem Menschen und er hatte das seltsame Gefühl, die schlafende Stadt für sich zu haben. Bei San Luca kam er an der Apotheke vorbei, einer der wenigen Einrichtungen, die auch nachts offen hatten, bis auf den Bahnhof, Schlafstätte der Obdachlosen und Verrückten.
Dann war er am Wasser, die Brücke lag zu seiner Rechten. Wie typisch venezianisch sie doch war, leicht und fast ätherisch von weitem, aber bei näherer Betrachtung fest verankert im schlammigen Untergrund der Stadt.
Er überquerte die Brücke und ging über den jetzt verlassenen Markt. Sonst war es ein Kreuz, sich durch diese Gasse zu drängen, durch die Schwärme von Touristen, eingezwängt zwischen Gemüseständen auf der einen und Andenkenläden mit den abartigsten Scheußlichkeiten auf der anderen Seite, aber in dieser Nacht konnte er frei ausschreiten. Vor ihm stand mitten auf der Calle ein Liebespärchen, eng aneinandergeschmiegt und blind für die Schönheit ringsum, aber vielleicht immerhin davon inspiriert.
An der Uhr bog er links ab, froh, gleich zu Hause zu sein. Fünf Minuten später kam er an seinem Lieblingsgeschäft vorbei, dem Blumenladen Biancat, in dessen Schaufenstern der Stadt täglich ein buntes Feuerwerk der Schönheit geboten wurde. In dieser Nacht hatten sich hinter der beschlagenen Scheibe gelbe Rosenknospen herausgeputzt und dahinter leuchtete eine Wolke aus blassem Jasmin. Schnell schritt er am zweiten Schaufenster vorbei, das mit grellen Orchideen dekoriert war; sie muteten ihn immer etwas kannibalisch an.
Er schloss die Tür zu dem Palazzo auf, in dem er wohnte und wappnete sich, wie immer, wenn er müde war, für die vierundneunzig Stufen zu seiner Wohnung im vierten Stock. Der frühere Besitzer hatte sie vor mehr als dreißig Jahren illegal gebaut, indem er einfach ein weiteres Stockwerk auf das Gebäude setzte, ohne sich um irgendeine offizielle Erlaubnis zu kümmern. Diese Situation war, als Brunetti die Wohnung vor zehn Jahren gekauft hatte, irgendwie verschleiert worden und seitdem lebte er in der ständig wiederkehrenden Sorge, eines Tages plötzlich mit der offiziellen Aufforderung konfrontiert zu werden, das Offensichtliche legalisieren lassen zu müssen. Ihn schauderte, wenn er an die Herkulesarbeit dachte, die nötigen Genehmigungen zu beschaffen, mit denen zum einen bestätigt wurde, dass die Wohnung existierte und zum anderen, dass er ein Recht hatte, darin zu wohnen. Die schlichte Tatsache, dass da Wände waren und er in ihnen lebte, würde kaum ausreichen. Und die Schmiergelder würden ihn wahrscheinlich ruinieren.
Er schloss die Tür auf und überließ sich dankbar der Wärme und den Düften, die für ihn mit dieser Wohnung verbunden waren: Lavendel, Bohnerwachs und das Aroma irgendeiner Speise, die in der Küche am anderen Ende köchelte; es war eine Mischung, die ihm auf unerklärliche Weise das Vorhandensein von Normalität in dem täglichen Irrsinn vor Augen führte, aus dem seine Arbeit bestand.
»Bist du's, Guido?«, rief Paola aus dem Wohnzimmer. Er überlegte, wen sie wohl sonst um zwei Uhr nachts erwartete, fragte aber nicht nach.
»Ja«, rief er nur, streifte seine Schuhe ab und zog den Mantel aus, wobei er sich erst jetzt eingestand, wie müde er war.
»Möchtest du einen Tee?« Sie kam in die Diele und küsste ihn leicht auf die Wange.
Er nickte und versuchte erst gar nicht, seine Erschöpfung vor ihr zu verbergen. Dann tapste er hinter ihr her in die Küche und setzte sich, während sie den Kessel mit Wasser füllte und auf den Herd stellte. Aus einem
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