Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Bühnenerfahrung. Aber der wahre Grund kam später, als er mir vorwarf, Begünstigungen für meinen Liebhaber zu wollen.« Er beugte sich vor und stellte sein Glas auf den Tisch. »Helmut sieht sich immer als so etwas wie einen Hüter öffentlicher Moral«, sagte er und korrigierte dann: »sah sich.«
»Und, ist er das?«, fragte Brunetti.
»Ist wer was?«, fragte Santore verwirrt zurück.
»Ist er Ihr Liebhaber, dieser Sänger?«
»Ach - nein. Ist er nicht. Leider.«
»Ist er homosexuell?«
»Nein, auch das nicht.«
»Warum hat sich Wellauer dann geweigert?«
Santore sah ihn direkt an und fragte dann: »Wie viel wissen Sie über ihn?«
»Sehr wenig und auch nur über sein Leben als Musiker und nur das, was man all die Jahre in den Zeitungen und Zeitschriften lesen konnte. Wie er als Mensch war, darüber weiß ich gar nichts.« Und das interessierte Brunetti langsam immer mehr, wie er merkte, denn dort musste die Antwort auf seinen Tod liegen. Das war immer so.
Santore sagte nichts darauf, also machte Brunetti einen Vorstoß. »Von Toten soll man nicht schlecht reden, vero? Ist es das?«
»Und auch nicht von jemandem, mit dem man vielleicht einmal wieder arbeiten muss«, fügte Santore hinzu.
Brunetti war selbst ganz überrascht, als er sich sagen hörte: »Das scheint hier kaum der Fall zu sein. Was gäbe es denn Schlechtes zu reden?«
Santore maß sein Gegenüber mit Blicken, wie er vielleicht einen Schauspieler oder Sänger taxieren würde, wenn er überlegte, wie er ihn bei einer Inszenierung einsetzen sollte. »Es sind in erster Linie Gerüchte«, meinte er endlich.
»Was für Gerüchte?«
»Über seine Nazivergangenheit. Keiner weiß etwas Genaues und wenn, dann sagt es keiner, oder was immer einmal geredet wurde, ist vergessen, dahin verdrängt, wohin die Erinnerung nicht folgt. Er hat jedenfalls für die damaligen Machthaber dirigiert. Es heißt sogar, er habe für den Führer dirigiert. Aber er behauptete, er habe es tun müssen, um einige seiner Orchestermitglieder zu retten, die Juden waren. Und sie haben den Krieg auch überlebt und sind die ganzen Kriegsjahre hindurch in seinem Orchester geblieben. Und er ebenso; nach dem Motto: Spielen und Überleben. Und irgendwie haben sie seinem Ruf nicht geschadet, die Jahre nicht und auch nicht die kleinen Privatkonzerte für den Führer. Nach dem Krieg«, fuhr Santore mit seltsam ruhiger Stimme fort, »sagte er, er sei in der ›moralischen Opposition‹ gewesen und habe gegen seinen Willen dirigiert.« Er trank einen kleinen Schluck. »Ich habe keine Ahnung, was davon stimmt, ob er Parteimitglied war oder nicht, oder wie weit er überhaupt verwickelt war. Und ich glaube, es ist mir auch egal.«
»Warum erwähnen Sie es dann?«, fragte Brunetti.
Santore lachte laut auf und seine Stimme hallte in dem leeren Raum. »Wahrscheinlich, weil ich glaube, dass es stimmt.«
Brunetti lächelte. »Das könnte sein.«
»Und wahrscheinlich, weil es mir nicht egal ist.«
»Auch das«, stimmte Brunetti zu.
Daraufhin schwiegen beide, bis Brunetti schließlich fragte: »Wie viel wissen Sie wirklich?«
»Ich weiß, dass er tatsächlich den ganzen Krieg über diese Konzerte gegeben hat. Und ich weiß auch, dass in einem Fall die Tochter eines seiner Musiker zu ihm gegangen ist und ihn gebeten hat, ihrem Vater zu helfen. Und dass dieser Musiker den Krieg überlebt hat.«
»Und die Tochter?«
»Auch.«
»Nun, also?«, fragte Brunetti.
»Nichts weiter.« Santore zuckte die Achseln. »Außerdem ist es immer leicht gewesen, seine Vergangenheit zu vergessen und nur sein Genie zu sehen. Es gab keinen wie ihn und ich fürchte, es gibt derzeit auch keinen mehr.«
»Haben Sie darum die Regie für diese Produktion übernommen, weil es praktisch war, seine Vergangenheit zu vergessen?« Das war als Frage gemeint, nicht als Beleidigung und Santore fasste es auch eindeutig so auf.
»Ja«, antwortete er leise. »Ich habe diese Regiearbeit übernommen, um meinem Freund die Gelegenheit zu geben, bei ihm zu singen. Insofern war es für mich praktisch, alles zu vergessen, was ich wusste oder vermutete, oder es zumindest zu ignorieren. Ich bin nicht sicher, ob es so wichtig ist, jetzt nicht mehr.«
Brunetti sah an Santores Gesicht, dass ihm ein Gedanke gekommen war. »Aber jetzt wird er nie mehr unter Helmut singen können«, sagte er und um Brunetti wissen zu lassen, dass ihr Gespräch sich nie weit von seinem eigentlichen Zweck entfernt hatte, fügte er hinzu: »Was der
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