Brunetti 01 - Venezianisches Finale
musste?«
Sie lächelte nur leicht, aber sie lächelte. »Heißt das«, fragte sie, »ob mir jemand einfällt, der ihn hätte umbringen wollen?«
Brunetti nickte.
»Seine Karriere war sehr lang und ich bin sicher, dass er in dieser Zeit viele Menschen gekränkt hat. Es gab bestimmt Leute, die ihn nicht mochten. Aber ich kann mir keinen vorstellen, der so etwas tun würde.« Abwesend fuhr sie mit dem Finger über die Armlehne ihres Sessels. »Und niemand, der Musik liebte, könnte so etwas tun.«
Er stand auf und streckte die Hand aus. »Ich danke Ihnen, Signora, für Ihre Zeit und Ihre Geduld.« Sie stand ebenfalls auf und nahm seine Hand. »Bemühen Sie sich nicht«, sagte er und meinte damit, dass er den Weg nach draußen schon allein finden würde. Sie schüttelte rasch und ablehnend den Kopf und ging voraus zur Tür. Dort gaben sie sich noch einmal schweigend die Hand. Er ging, beunruhigt durch dieses Gespräch und nicht ganz sicher, ob der Grund nur die Plattitüden und übertriebenen Höflichkeiten von seiner Seite waren oder etwas, das er aus Unaufmerksamkeit nicht recht mitbekommen hatte.
10.
Inzwischen war die Dunkelheit heraufgezogen, jene unvermittelt einbrechende, frühe Winterdämmerung, die noch zu der Trostlosigkeit beitrug, die auf der Stadt lastete, bis sie durch das Frühjahr erlöst wurde. Er beschloss, nicht ins Büro zurückzugehen. Er hatte keine Lust, sich zu ärgern, falls der Laborbericht immer noch nicht da war und er wollte auch die Akte aus Deutschland nicht noch einmal lesen. Beim Gehen dachte er darüber nach, wie wenig er eigentlich über den Toten erfahren hatte. Gut, er hatte eine Menge Informationen über den Mann, aber alles war merkwürdig unscharf, zu förmlich und unpersönlich. Ein Genie, ein Homophober, ein Mann, den die Musikwelt anbetete und der von einer Frau geliebt wurde, die halb so alt war wie er, dennoch ein Mann, dessen Wesen nicht zu greifen war. Brunetti kannte Fakten, aber er hatte keine Ahnung von der Wirklichkeit.
Im Weitergehen machte er sich Gedanken darüber, durch welche Mittel er an seine Informationen gekommen war. Die Quellen von Interpol standen ihm zur Verfügung, er hatte die volle Unterstützung der deutschen Polizei und durch seine Position konnte er die Hilfe des gesamten italienischen Polizeiapparates in Anspruch nehmen. Da lag es doch auf der Hand, dass der verlässlichste Weg zu einem genauen Bild des Mannes über die unfehlbare Quelle aller Informationen führte - den Klatsch.
Es wäre übertrieben, sagen zu wollen, dass Brunetti Paolas Eltern, den Conte und die Contessa Falier, nicht mochte, aber ebenso übertrieben zu sagen, dass er sie mochte. Sie waren für ihn ebenso rätselhaft wie ein Kranichpaar für jemanden, der gewöhnt ist, den Tauben im Park Brotkrümel zu streuen. Sie gehörten zu einer seltenen und eleganten Spezies und Brunetti hegte, nachdem er sie fast zwei Jahrzehnte kannte, zugegebenermaßen gemischte Gefühle über die Unvermeidbarkeit ihres Aussterbens.
Der Conte Falier, der mütterlicherseits zwei Dogen zu seinen Vorfahren zählte, konnte seine Familie bis ins zwölfte Jahrhundert zurückverfolgen und tat es auch. In den Zweigen seines Stammbaums hockten Kreuzfahrer, ein oder zwei Kardinäle, ein weniger bedeutender Komponist und der frühere italienische Botschafter am Hof des Königs Zog von Albanien. Paolas Mutter war in Florenz geboren, obwohl ihre Familie kurz nach diesem Ereignis in den Norden gezogen war. Sie berief sich auf Abstammung von den Medici und in einer Art genealogischem Schachspiel, das auf die Leute aus ihren Kreisen eine seltsame Faszination ausübte, setzte sie den Dogen ihres Mannes einen Papst und einen millionenschweren Tuchhändler entgegen, dem Kardinal einen Cousin Petrarcas, dem Komponisten einen berühmten Kastraten (leider ohne Nachkommen) und dem Botschafter Garibaldis Banker.
Sie bewohnten einen Palazzo, der sich schon mindestens drei Jahrhunderte im Besitz der Falieri befand, ein riesiges, weitläufiges Gemäuer am Canal Grande, das im Winter buchstäblich unheizbar war und vor dem bevorstehenden Kollaps nur durch die Dauerdienste einer Schar von Maurern, Bauunternehmern, Klempnern und Elektrikern bewahrt wurde, die dem Conte bei der venezianischen Dauerschlacht gegen die unerbittlichen Mächte von Zeit, Gezeiten und industrieller Luftverschmutzung bereitwillig zur Seite standen.
Brunetti hatte die Zimmer des Palazzo nie gezählt und sich immer gescheut zu fragen, wie viele es
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