Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Brunetti nicht bereits wusste.
Der Laborbericht lag auf seinem Schreibtisch. Die Fingerabdrücke auf der Kaffeetasse, in der man Spuren von Zyankali gefunden hatte, stammten ausschließlich von Wellauer. In seiner Garderobe gab es massenweise andere Abdrücke, viel zu viele, um sie alle zu untersuchen. Er entschied, keine Fingerabdrücke nehmen zu lassen. Da auf der Tasse nur Wellauers waren, schien es nicht sehr sinnvoll, alle anderen im Zimmer identifizieren zu lassen.
Bei dem Bericht über die Fingerabdrücke lag eine Liste der Gegenstände, die sich in der Garderobe befunden hatten. An die meisten erinnerte er sich: Die Partitur von La Traviata, jede Seite voller Notizen in der spitzen gotischen Schrift des Dirigenten; ein Kamm, eine Brieftasche, Kleingeld, die Kleidungsstücke, die er getragen hatte und die im Schrank, ein Taschentuch und eine Schachtel Pfefferminz. Außerdem hatte man eine Rolex Oyster, einen Stift und ein kleines Adressbuch gefunden.
Die Beamten, die sich in der Wohnung des Dirigenten umgesehen hatten - Durchsuchung konnte man es wohl kaum nennen - hatten auch einen Bericht verfasst, aber da sie keine Ahnung hatten, wonach sie suchen sollten, machte Brunetti sich wenig Hoffnung, daraus irgend etwas Interessantes oder Wichtiges entnehmen zu können. Dennoch las er ihn sorgfältig durch.
Der Maestro besaß eine bemerkenswert komplette Garderobe für einen Mann, der jedes Jahr nur ein paar Wochen in dieser Stadt verbrachte. Brunetti staunte über die Genauigkeit, mit der die Notizen sich der Kleidung widmeten: ›Schwarzes Kaschmir-Jackett, doppelt geschlitzt (Duca D'Aosta), Pullover, kobaltblau und mattbraun, Größe 52 (Missoni).‹ Einen Moment fragte er sich, ob er sich vielleicht verlaufen hatte und in Valentinos Boutique gelandet war statt im Polizeipräsidium. Er blätterte ans Ende und fand, wie befürchtet, die Unterschriften von Alvise und Riverre. Den beiden Beamten, die vor einem Jahr über eine Leiche, die am Lido aus dem Meer gefischt wurde, ins Protokoll geschrieben hatten: ›Allem Anschein nach Erstickungstod.‹
Er wandte sich wieder dem Bericht zu. Die Signora teilte offenbar das Interesse ihres verstorbenen Mannes an Kleidung nicht. Und Alvise und Riverre schienen auch keine hohe Meinung von ihrem Geschmack zu haben. ›Varesestiefel, nur ein Paar. Schwarzer Wollmantel, ohne Herstelleretikett.‹ Die Bibliothek hingegen hatte sie anscheinend beeindruckt. Sie wurde als ›umfangreich, in drei Sprachen sowie einer vierten, offenbar Ungarisch‹ bezeichnet.
Brunetti blätterte weiter. In der Wohnung gab es zwei Gästezimmer, jedes mit eigenem Bad. Frische Handtücher, leere Schränke, Dior-Seife.
Von Signora Wellauers Tochter keine Anzeichen. Nichts deutete auf die Anwesenheit des dritten Familienmitglieds hin. Keines der beiden übrigen Zimmer enthielt Garderobe, Bücher oder andere Sachen, die einem Teenager gehören konnten. Angesichts dessen, dass Brunetti über Beweise der Anwesenheit seiner eigenen Tochter ständig stolperte, fand er das merkwürdig. Signora Wellauer hatte ihm gesagt, ihre Tochter gehe in München zur Schule. Aber es musste schon ein bemerkenswertes Kind sein, das es schaffte, seinen ganzen Krimskrams mitzunehmen.
Es folgte eine Beschreibung des Zimmers der belgischen Haushälterin, das den beiden Beamten anscheinend zu einfach möbliert war, sowie der Angestellten selbst, die sie zurückhaltend, aber hilfsbereit fanden. Zuletzt wurde das Arbeitszimmer des Maestros beschrieben, in dem sie ›Dokumente‹ gefunden hatten. Einige hatten sie offenbar mitgenommen und zum Übersetzen gegeben, auf einem beiliegenden Blatt erklärte die Übersetzerin, es handle sich bei den meisten Papieren um Geschäftliches und Vertragsangelegenheiten. Ein Terminkalender war durchgesehen und für unwichtig befunden worden.
Brunetti beschloss, die beiden Autoren dieses Dokuments zu suchen und sich so den Ärger zu ersparen, darauf warten zu müssen, dass sie seiner Aufforderung Folge leisteten und in sein Büro heraufkamen. Da es fast neun war, wusste er, dass er sie in der Bar auf der anderen Seite des Ponte dei Greci finden würde. Nicht die exakte Stunde, sondern die Tatsache, dass es Vormittag war, machte diesen Schluss zwingend.
Auch wenn Brunetti davor graute, die beiden bei jeder Ermittlung aufgebürdet zu bekommen, mochte er sie eigentlich ganz gern. Alvise war ein kleiner, vierschrötiger Mann Ende Vierzig, beinah die Karikatur des dunkelhäutigen Sizilianers,
Weitere Kostenlose Bücher