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Brunetti 01 - Venezianisches Finale

Brunetti 01 - Venezianisches Finale

Titel: Brunetti 01 - Venezianisches Finale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Und...« Ihre Stimme verebbte, während sie überlegte, wie sie es ihm erklären könnte. »Und ich war jung und mutig und sagte, ich würde nicht singen. Ich war jung und berühmt und ich dachte, ich könnte mir so etwas leisten, weil mein Ruhm mich schützen würde. Ich dachte, die Liebe der Italiener für Kunst und Musik ginge so weit, dass ich es ungestraft tun könnte.« Sie schüttelte bei der Erinnerung den Kopf.
    »Und was ist passiert, Signora?«
    »Ich habe nicht gesungen. Ich habe an dem Abend nicht gesungen und nie mehr öffentlich. Er konnte mich nicht umbringen, weil ich nicht singen wollte, aber er konnte mich einsperren. Ich musste bis zum Kriegsende in meiner Wohnung in Rom bleiben und als alles vorbei war... als alles vorbei war, habe ich nicht mehr gesungen.« Sie rutschte tiefer in ihren Sessel. »Darüber möchte ich nicht sprechen.«
    »Gut, dann über den Maestro. Gibt es noch etwas über ihn, woran Sie sich erinnern?« Obwohl keiner von beiden seinen Tod erwähnt hatte, sprachen sie von ihm wie von einem Toten.
    »Nein, nichts.«
    »Stimmt es, Signora, dass Sie ganz persönliche Schwierigkeiten mit ihm hatten?«
    »Das ist alles fünfzig Jahre her«, sagte sie müde. »Was kann daran noch wichtig sein?«
    »Signora, ich möchte mir nur ein Bild von dem Mann machen. Ich kenne nur seine Musik, die wunderschön ist und ich habe seinen toten Körper gesehen, der nicht sehr schön war. Je mehr ich über ihn weiß, desto besser kann ich vielleicht verstehen, wie er gestorben ist.«
    »Es war Gift, nicht?«
    »Ja.«
    »Gut.« Es lag keine Bosheit, keine Gehässigkeit in ihrer Stimme. Die Bemerkung hätte auch einem Musikstück oder einem Essen gelten können, so viel Begeisterung war daraus zu lesen. Er sah, dass ihre Hände jetzt ineinander lagen und sie die Finger nervös verschränkte. »Aber es tut mir leid, dass er umgebracht worden ist.« Was kam jetzt, überlegte Brunetti. »Selbstmord wäre mir lieber gewesen, dann wäre er nicht nur gestorben, sondern auch noch in die Hölle gekommen.« Ihr Tonfall blieb gleichmäßig und leidenschaftslos.
    Brunetti fror. Seine Zähne schlugen aufeinander. Fast unbewusst stand er auf und begann hin und her zu gehen, um etwas Wärme in seine erstarrten Gliedmaßen zu pumpen. Am Schreibtisch blieb er vor dem Foto stehen und betrachtete es. Die drei Mädchen trugen die exaltierte Mode der dreißiger Jahre: lange Spitzenkleider, die auf dem Boden schleiften, offene Schuhe mit hohen Absätzen. Alle drei hatten die gleichen bogenförmig ausgemalten Münder und haarfeinen, geschwungenen Augenbrauen. Unter dem Make-up und dem ondulierten Haar sah er, dass sie sehr jung waren. Der Fotograf hatte sie dem Alter nach aufgestellt, die Älteste links. Sie mochte Anfang Zwanzig sein, die in der Mitte ein paar Jahre jünger. Die letzte war kaum mehr als ein Kind, vielleicht zwischen zwölf und vierzehn.
    »Welche sind Sie, Signora?«
    »Die in der Mitte. Ich war die Mittlere.«
    »Und die beiden anderen?«
    »Clara. Sie war älter. Und Camilla. Sie war das Baby. Wir waren eine gute italienische Familie. Meine Mutter hat in zwölf Jahren sechs Kinder geboren, drei Mädchen und drei Jungen.«
    »Haben Ihre Schwestern auch gesungen?«
    Sie seufzte und schnaubte dann leise und ungläubig. »Es gab mal eine Zeit, da kannte jeder in Italien die drei Santina-Schwestern, die ›drei Cs‹. Aber das ist lange her und es gibt keinen Grund, warum Sie es wissen sollten.« Er sah, wie sie das Bild betrachtete und überlegte, ob für sie die drei immer noch waren wie auf dem Foto, jung und hübsch.
    »Wir haben in Varietes angefangen, nach den Filmen. Unsere Familie hatte wenig Geld, also haben wir, die Töchter, gesungen und etwas dazuverdient. Dann wurde man auf uns aufmerksam und es gab mehr Geld. Ich merkte irgendwann, dass ich eine richtige Stimme hatte und habe dann angefangen, im Theater zu singen, aber Clara und Camilla sangen weiter in den Varietes.« Sie hielt inne, nahm ihre Tasse und trank den Kaffee in drei schnellen Schlucken aus, dann verbarg sie ihre Hände in der Wärme unter den Decken.
    »Hatte Ihr Ärger mit dem Maestro auch etwas mit Ihren Schwestern zu tun, Signora?«
    Ihre Stimme klang plötzlich alt und müde. »Das ist zu lange her. Spielt es eine Rolle?«
    »Hatte er mit Ihren Schwestern zu tun?«
    Ihre Stimme schnellte ins Sopranregister. »Warum fragen Sie danach? Was spielt es für eine Rolle? Er ist tot. Sie sind tot. Sie sind alle tot.« Sie zog die losen

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