Brunetti 01 - Venezianisches Finale
und wie leicht man unbemerkt in der Garderobe des Dirigenten ein und aus gehen konnte.
Er wartete eine Viertelstunde, dankbar für die Gelegenheit, an einem ruhigen Ort allein sein zu können. Nach und nach verebbten die vielen Geräusche von draußen und ihm wurde klar, dass die Sänger nach unten gegangen waren, um ihre Plätze auf der Bühne einzunehmen. Trotzdem verweilte er noch etwas in der beruhigenden Stille.
Als dann, durch Treppenhaus und Wände gefiltert, die Ouvertüre zu ihm heraufdrang, hielt er es für an der Zeit, die Garderobe des Dirigenten zu suchen. Er trat in den Gang und sah sich nach der Frau um, die ihnen aufgeschlossen hatte, aber sie war nirgends zu sehen. Da er versprochen hatte, dafür zu sorgen, dass wieder abgeschlossen wurde, ging er durch den Flur bis zur Treppe und schaute nach unten. »Signora Lucia?«, rief er, aber niemand antwortete. Er klopfte an die erste Garderobe, nichts. Ebenso bei der zweiten. Bei der dritten rief von drinnen eine Stimme: »Avanti!« und er stieß die Tür auf, um zu erklären, dass er die Garderobe nicht mehr brauche und sie abgeschlossen werden könne.
»Signora Lucia«, fing er an und hielt abrupt inne, als er in einem Sessel ausgestreckt Brett Lynch sah, auf dem Schoß ein aufgeschlagenes Buch, in der Hand ein Glas Rotwein.
Sie war ebenso verblüfft wie er, erholte sich aber schneller. »Guten Abend, Commissario. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Sie setzte das Glas auf dem Tisch neben ihrem Sessel ab, klappte das Buch zu und lächelte.
»Ich wollte Signora Lucia sagen, dass sie die andere Garderobe jetzt abschließen kann«, erklärte er.
»Sie ist wahrscheinlich unten und sieht aus den Kulissen zu. Sie ist eine große Verehrerin von Flavia. Wenn sie wiederkommt, sage ich ihr, dass sie abschließen soll. Keine Sorge, das geht schon in Ordnung.«
»Sehr nett von Ihnen. Sehen Sie sich die Vorstellung nicht an?«
»Nein«, antwortete sie und als sie sein Gesicht sah, fragte sie: »Überrascht Sie das?«
»Ich weiß es nicht genau. Aber da ich Sie gefragt habe, überrascht es mich wohl.«
Ihr Grinsen gefiel ihm, einmal, weil er es nicht von ihr erwartet hätte und zum anderen, weil es ihr kantiges Gesicht weicher machte.
»Wenn Sie versprechen, es Flavia nicht zu erzählen, gestehe ich Ihnen hiermit, dass ich Verdi nicht sonderlich mag und die Traviata auch nicht.«
»Warum nicht?«, fragte er, erstaunt zu hören, dass die Sekretärin und Freundin - dabei beließ er es - der berühmtesten Verdi-Sopranistin zugab, diese Musik nicht zu mögen.
»Setzen Sie sich doch, Commissario«, sagte sie und deutete auf den Sessel ihr gegenüber. »In den nächsten«, sie sah auf die Uhr, »vierundzwanzig Minuten passiert nicht viel.« Er setzte sich, drehte den Sessel so, dass er sie besser sehen konnte und fragte: »Warum mögen Sie Verdi nicht?«
»So kann man es eigentlich nicht sagen. Ich mag einiges von ihm, Othello zum Beispiel. Aber das Jahrhundert ist nichts für mich.«
»Welches ist denn nach Ihrem Geschmack?«, wollte er wissen, obwohl er ziemlich sicher war, was sie antworten würde. Als reiche und aufgeschlossene Amerikanerin würde sie die Musik ihres Jahrhunderts bevorzugen, des Jahrhunderts, das sie hervorgebracht hatte.
»Das achtzehnte«, antwortete sie überraschenderweise. »Mozart und Händel, die Flavia leider beide nicht so gern singt.«
»Haben Sie versucht, sie zu bekehren?«
Sie nahm ihr Glas, trank einen Schluck und stellte es wieder ab. »Ich habe sie zu einigen Dingen bekehrt, aber von Verdi kann ich sie offenbar nicht weglocken.«
»Ich glaube, das muss man als unser großes Glück bezeichnen«, antwortete er, indem er locker ihren Ton übernahm, der viel mehr ausdrückte als die Worte. »Das andere ist dann wohl Ihres.«
Sie überraschte ihn aufs Neue, als sie kicherte und er überraschte sich selbst, als er mitlachte. »Gut, das hätten wir also. Ich habe gestanden. Jetzt können wir uns wie menschliche Wesen unterhalten und nicht wie die Protagonisten eines billigen Romans.«
»Sehr gern, Signorina.«
»Ich heiße Brett und ich weiß, dass Sie Guido heißen«, sagte sie und tat damit den ersten Schritt zu einem vertrauteren Umgangston. Sie stand auf und ging zu einem kleinen Spülbecken in der Ecke.
Daneben stand eine Flasche Wein. Sie goss Wein in ein zweites Glas, brachte es zusammen mit der Flasche herüber und reichte es ihm.
»Sind Sie gekommen, um noch einmal mit Flavia zu sprechen?«, fragte sie.
»Nein,
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