Brunetti 01 - Venezianisches Finale
das hatte ich nicht vor. Aber früher oder später muss ich noch einmal mit ihr reden.«
»Warum?«
»Um sie zu fragen, was sie neulich nach dem ersten Akt in Wellauers Garderobe zu suchen hatte.« Falls sie das überraschte, ließ sie es sich nicht anmerken. »Haben Sie eine Ahnung?«
»Wie kommen Sie darauf, dass sie bei ihm war?«
»Weil mindestens zwei Leute gesehen haben, wie sie hineinging. Nach dem ersten Akt.«
»Aber nicht nach dem zweiten?«
»Nein, nicht nach dem zweiten.«
»Nach dem zweiten war sie hier oben bei mir.«
»Bei unserer letzten Unterhaltung haben Sie gesagt, dass sie nach dem ersten Akt auch hier oben bei Ihnen war, Brett. Aber es war nicht so. Können Sie einen Grund nennen, warum ich glauben sollte, dass Sie jetzt die Wahrheit sagen, nachdem Sie neulich gelogen haben?« Er trank von dem Wein. Es war ein Barolo, sehr gut.
»Es ist die Wahrheit.«
»Warum sollte ich das glauben?«
»Dafür gibt es wohl keinen plausiblen Grund.« Sie nippte wieder an ihrem Glas, als hätten sie noch den ganzen Abend für ihre Unterhaltung vor sich. »Aber sie war hier.« Sie trank aus, goss sich nach und sagte: »Sie ist nach dem ersten Akt bei ihm gewesen. Sie hat es mir erzählt. Seit Tagen hatte er Katz und Maus mit ihr gespielt, hatte gedroht, ihrem Exmann zu schreiben. Da ist sie schließlich zu ihm gegangen, um mit ihm zu reden.«
»Das scheint mir ein merkwürdiger Zeitpunkt zu sein, während einer Vorstellung.«
»So ist Flavia eben. Sie denkt nicht viel darüber nach, was sie tut. Sie tut es einfach, tut, was sie will. Einer der Gründe, warum sie eine große Sängerin ist.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass es sich damit gar nicht so leicht leben lässt.«
»Ja, stimmt«, grinste sie. »Aber dafür gibt's Entschädigungen.«
»Was hat sie Ihnen gesagt?« Als sie ihn nicht gleich verstand, fügte er hinzu: »Über ihr Gespräch mit ihm.«
»Dass sie eine Auseinandersetzung hatten. Er wollte ihr nicht eindeutig sagen, ob er an ihren Mann geschrieben hatte oder nicht. Viel mehr hat sie nicht gesagt, aber sie zitterte noch vor Wut, als sie hier ankam. Ich weiß nicht, wie sie überhaupt singen konnte.«
»Und hatte er dem Ehemann geschrieben?«
»Ich weiß es nicht. Sie hat seit neulich Abend nicht mehr darüber gesprochen.« Sie sah sein erstauntes Gesicht. »Wie ich schon sagte, so ist sie eben. Wenn sie singen muss, redet sie nicht gern über Dinge, die sie beunruhigen.« Und bedauernd fügte sie hinzu: »Sie tut es auch sonst nicht gern, aber sie sagt, es stört ihre Konzentration, wenn sie sich mit anderen Dingen als ihrer Musik befassen muss. Und ich nehme an, alle haben ihr das immer durchgehen lassen. Weiß Gott, ich tue es jedenfalls.«
»War er dazu fähig, ihrem Exmann zu schreiben, meine ich.«
»Der Mann war zu allem fähig. Glauben Sie mir. Er sah sich als eine Art Hüter menschlicher Moral. Er ertrug es nicht, dass jemand seiner Definition von richtig und falsch zuwider lebte. Es machte ihn fuchsteufelswild, wenn jemand das wagte. Er meinte, so etwas wie ein gottgegebenes Recht zu haben, ihn dann der Gerechtigkeit zuzuführen, seiner Gerechtigkeit.«
»Und wozu war sie fähig?«
»Flavia?«
»Ja.«
Die Frage überraschte sie nicht. »Ich weiß es nicht, ich glaube nicht, dass sie es auf diese Weise tun könnte, nicht so kaltblütig. Sie würde alles Mögliche tun, um ihre Kinder zu behalten, aber ich glaube nicht... nein, nicht mit solchen Mitteln. Außerdem würde sie wohl kaum Gift mit sich herumtragen, oder?« Sie schien erleichtert, dass ihr dieser Gedanke gekommen war. »Die Sache ist aber noch nicht ausgestanden. Wenn es eine Verhandlung oder so etwas wie eine Anhörung gibt, kommt doch heraus, worum es in ihrer Auseinandersetzung ging, oder?« Brunetti nickte. »Und mehr braucht ihr Mann nicht.«
»Da bin ich nicht so sicher«, meinte Brunetti.
»Ach, hören Sie auf«, schnauzte sie. »Wir sind hier in Italien, dem Land der glücklichen Familie, der geheiligten Familie. Liebhaber könnte sie haben, so viele sie wollte, solange es Männer sind. Das bringt den Vater, oder etwas Ähnliches wie einen Vater, wieder ins Haus. Aber sobald dieses publik würde, hätte sie keine Chance gegen ihn.«
»Glauben Sie nicht, dass Sie da übertreiben?«
»Was übertreiben?«, wollte sie wissen. »Mein Leben war nie ein Geheimnis. Ich war immer zu reich, als dass es eine Rolle gespielt hätte, was die Leute über mich sagten oder dachten. Das hat sie aber nicht davon
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