Brunetti 01 - Venezianisches Finale
auf ihren Ständern mit einschloss. »Dies hier ist nicht meine Zukunft. Meine besteht aus Tongefäßen und Scherben und Stückchen einer Zivilisation, die Tausende von Jahren alt ist. Und Flavias ist hier, inmitten all dieser Dinge. In fünf Jahren wird sie die berühmteste Verdi-Sängerin der Welt sein. Ich glaube nicht, dass es für mich dann noch einen Platz gibt. Sie hat das noch nicht erkannt, aber ich habe Ihnen ja gesagt, wie sie ist. Sie weigert sich einfach, daran zu denken, bis es soweit ist.«
»Aber Sie haben schon daran gedacht?«
»Natürlich.«
»Und was werden Sie tun?«
»Sehen, was hier passiert, mit all dem.« Sie machte wieder eine Bewegung, die diesmal den Tod mit einbezog, der sich vor vier Tagen in diesem Theater ereignet hatte. »Und dann gehe ich zurück nach China. Das glaube ich wenigstens.«
»Einfach so?«
»Nein, nicht ›einfach so‹, aber ich werde trotzdem gehen.«
»Lohnt es sich?«
»Lohnt sich was?«
»China.«
Sie zuckte wieder die Achseln. »Es ist mein Beruf. Meine Arbeit. Und es ist wohl auch das, was ich liebe. Ich kann nicht mein Leben damit verbringen, in Garderoben herumzusitzen, chinesische Gedichte zu lesen und zu warten, dass die Oper aus ist, damit ich mit meinem eigenen Leben anfangen kann.«
»Haben Sie ihr das gesagt?«
»Ob sie mir was gesagt hat?«, wollte Flavia Petrelli wissen und schlug nach einem vollendet theatralischen Auftritt die Tür hinter sich zu. Sie rauschte durchs Zimmer und zog dabei die Schleppe eines blassblauen Kleides hinter sich her. Sie war völlig verwandelt, strahlend und so schön, wie Brunetti nur je eine Frau gesehen hatte. Und der Wandel hatte nichts mit Kostüm oder Make-up zu tun; sie war als das gekleidet, was sie war und was sie tat. Das hatte sie verändert. Sie ließ den Blick im Zimmer umherschweifen, bemerkte die beiden Gläser und die freundliche Atmosphäre. »Ob sie mir was gesagt hat?«, fragte sie zum zweiten Mal.
»Dass sie die Traviata nicht leiden kann«, sagte Brunetti. »Ich habe mich gewundert, dass sie hier sitzt und liest, während Sie singen und sie erklärte mir, die Traviata sei nicht gerade ihre Lieblingsoper.«
»Und ich wundere mich, Sie hier zu sehen, Commissario. Und dass es nicht ihre Lieblingsoper ist, weiß ich.« Falls sie ihm seine Erklärung nicht abnahm, ließ sie es sich nicht anmerken. Er war bei ihrem Eintritt aufgestanden. Jetzt ging sie an ihm vorbei, nahm sich ein Glas von der Spüle, füllte es mit Mineralwasser und trank es in vier großen Schlucken aus. Dann füllte sie es wieder und trank die Hälfte. »Es ist die reinste Sauna da draußen, mit all den Scheinwerfern.« Sie trank aus und stellte das Glas ab. »Worüber habt ihr beide geredet?«
»Er hat es schon gesagt, Flavia, über die Traviata.«
»Das ist gelogen«, fuhr die Sängerin auf. »Aber ich habe keine Zeit, weiter darüber zu reden.« Sie wandte sich an Brunetti und sagte mit zorngepresster Stimme, die wie immer bei Sängern, wenn sie gesungen haben, ganz hoch war: »Wenn Sie so freundlich wären, jetzt meine Garderobe zu verlassen, ich würde mich gern für den nächsten Akt umziehen.«
»Aber sicher, Signora«, sagte er, ganz Höflichkeit und Entschuldigung. Er nickte Brett Lynch zu, die mit einem kurzen Lächeln antwortete, aber sitzen blieb. Dann ging er rasch hinaus. Draußen blieb er stehen und lauschte, ein Ohr dicht an der Tür, nicht im Mindesten beschämt über sein Tun. Aber was immer sie sich zu sagen hatten, wurde mit leiser Stimme gesagt.
An der Treppe tauchte die Frau im blauen Kittel auf. Brunetti riss sich von der Tür los und ging auf sie zu, um ihr zu sagen, dass er die Garderobe nicht mehr brauche. Dann stieg er über die Treppe nach unten in den Bereich hinter der Bühne, wo ein verblüffendes Chaos herrschte. Kostümierte Gestalten lehnten rauchend und lachend an den Wänden. Männer im Smoking unterhielten sich über Fußball. Bühnenarbeiter liefen mit Farnen aus Papier hin und her und trugen Tabletts vorbei, auf denen Champagnergläser festgeklebt waren.
Im Korridor lag rechts vor ihm die Garderobe des Maestros, deren Tür jetzt hinter dem neuen Dirigenten geschlossen war. Brunetti stand mindestens zehn Minuten am Ende des Flurs und niemand kümmerte sich darum, wer er war oder was er hier zu suchen hatte. Schließlich ertönte eine Klingel und ein bärtiger Mann in Jackett und Krawatte ging von einer Gruppe zur anderen, deutete in die verschiedensten Richtungen und schickte sie alle
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