Brunetti 01 - Venezianisches Finale
gesehen hatte. Sie glich eher Signora Santina als einer berühmten Kurtisane. Die dunklen Ringe unter den Augen und das Elend in den heruntergezogenen Mundwinkeln sprachen überzeugend von Krankheit und Verzweiflung. Selbst die Stimme, mit der sie Annina bat, das bisschen Geld, das sie noch hatte, den Armen zu geben, war schwach und klang nach Schmerz und Entsagung.
»Sie ist sehr gut«, sagte Paola.
Brunetti machte: »Psst.« Sie sahen zu.
»Und er ist dumm«, fügte Chiara hinzu, als Alfredo ins Zimmer gestürmt kam und sie in die Arme schloss.
»Psst«, zischten sie beide.
Chiara wandte sich wieder ihren Zahlen zu und murmelte »Blödmann«, gerade so laut, dass ihre Eltern es hören konnten.
Er beobachtete, wie sich das Gesicht der Petrelli in der Ekstase der Wiedervereinigung verwandelte, wie es in echter Freude errötete. Gemeinsam planten sie eine Zukunft, die es nie geben würde und ihre Stimme veränderte sich; er hörte, wie sie wieder Kraft und Klarheit gewann.
Die Freude brachte sie auf die Beine und ließ sie die Hände zum Himmel erheben. »Ich fühle mich wie neu geboren«, rief sie und da es eine Oper war, brach sie danach prompt zusammen und starb.
»Ich finde immer noch, dass er ein Blödmann ist«, beharrte Chiara über Alfredos Klagen und dem wilden Applaus des Publikums. »Selbst, wenn sie noch leben würde, wovon sollten sie denn leben? Soll sie vielleicht wieder das tun, was sie getan hat, bevor sie sich kennen lernten?« Brunetti wollte lieber nicht wissen, wie viel seine Tochter von solchen Dingen wusste. Nachdem sie ihre Meinung kundgetan hatte, kritzelte Chiara eine lange Zahlenreihe unten auf ihr Blatt, steckte es in ihr Mathematikbuch und klappte das Buch zu.
»Ich hatte keine Ahnung, dass sie so gut ist«, sagte Paola respektvoll und ohne die Kommentare ihrer Tochter zu beachten. »Was ist sie denn für ein Mensch?« Es war typisch für sie: Dass diese Frau in einen Mordfall verwickelt war, hatte nicht ausgereicht, um sie für Paola interessant zu machen, sie musste erst sehen, wie gut sie war.
»Nichts weiter als eine Sängerin«, meinte er achselzuckend.
»Ja, ja und Reagan war nichts weiter als ein Schauspieler«, sagte Paola. »Was ist sie für ein Mensch?«
»Sie ist arrogant, hat Angst, ihre Kinder zu verlieren und trägt viel Braun.«
»Wollen wir nicht essen?«, sagte Chiara. »Ich sterbe vor Hunger.«
»Dann geh schon mal den Tisch decken. Wir kommen gleich.«
Chiara erhob sich äußerst widerwillig und ging in die Küche, nicht ohne vorher erklärt zu haben: »Und jetzt lässt du dir wahrscheinlich von Papà erzählen, wie sie wirklich ist und ich verpasse wieder das Interessanteste. Wie immer.« Zu ihren größten Kümmernissen gehörte es, dass sie ihrem Vater nie irgendwelche Informationen entlocken konnte, die sich in Schulhofpopularität ummünzen ließen.
»Ich frage mich«, sagte Paola, während sie ihre Gläser nachfüllte, »wie sie so gut spielen gelernt hat. Ich hatte eine Tante, die an Tb gestorben ist, als ich noch ein Kind war und ich kann mich noch gut erinnern, wie sie aussah und wie sie immer so nervös ihre Hände bewegt hat, genau wie die Petrelli auf der Bühne; immerzu waren die Hände auf ihrem Schoß in Bewegung und eine griff nach der anderen.« Und dann, mit der ihr eigenen Sprunghaftigkeit: »Glaubst du, sie hat es getan?«
Er zuckte die Achseln. »Möglicherweise. Alle bemühen sich, mir einzureden, sie sei ein südländischer Hitzkopf, ganz Leidenschaft, Messer in die Rippen, sobald das beleidigende Wort heraus ist. Aber du hast ja eben gesehen, was für eine gute Schauspielerin sie ist, sie könnte also ebenso gut kalt und berechnend und durchaus in der Lage sein, die Tat so auszuführen, wie sie ausgeführt wurde. Zudem ist sie, glaube ich, intelligent.«
»Und ihre Freundin?«
»Die Amerikanerin?«
»Ja.«
»Bei ihr weiß ich nicht recht. Sie hat mir erzählt, dass die Petrelli nach dem ersten Akt bei ihm war, aber nur, um mit ihm herumzustreiten.«
»Worüber?«
»Er hatte gedroht, ihren Exmann über die Affäre mit Brett zu informieren.«
Wenn Paola erstaunt war, dass er den Vornamen benutzte, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Sind Kinder da?«
»Ja. Zwei.«
»Dann ist es eine ernste Drohung. Aber was ist mit ihr, Brett, wie du sie nennst, könnte sie es gewesen sein?«
»Nein, ich glaube nicht. Die Affäre ist für sie nicht so tief greifend. Oder sie lässt es nicht zu. Nein, das halte ich für
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