Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Wenn nicht, dann bring mir irgendeinen, von dem du meinst, dass er mir schmeckt.« In der Sprachregelung der Familie hieß das, sie konnte den Wein nehmen, von dem sie am liebsten probieren wollte.
Er ließ sich aufs Sofa fallen, streifte die Schuhe ab und legte die Füße auf den Couchtisch. Im Fernsehen informierte ein Sprecher die Zuschauer ganz unnötigerweise über die Ereignisse der letzten Tage. Sein eifriger, düsterer Tonfall ließ das Ganze klingen wie die Inhaltsangabe zu einer Oper aus dem eher blutigveristischen Repertoire.
Chiara kam zurück. Sie war groß und ohne jede körperliche Anmut. Wenn sie mit dem Abwasch dran war, konnte man es noch zwei Zimmer weiter an dem Geklapper und Gebummer hören. Aber sie war hübsch, würde sich vielleicht zu einer Schönheit entwickeln, mit ihren weit auseinander stehenden Augen und dem zarten Flaum unter den Ohren, der jedes mal sein Herz schmelzen ließ, wenn er ihn gegen das Licht schimmern sah.
»Fragolino«, sagte sie hinter ihm und gab ihm das Glas, wobei sie tatsächlich nur einen einzigen Tropfen verschüttete und der fiel auf den Fußboden. »Kann ich mal probieren? Mamma wollte ihn nicht aufmachen. Sie sagte, es wäre dann nur noch eine Flasche da, aber ich habe ihr erklärt, dass du sehr müde bist, da war sie einverstanden.« Noch bevor er einwilligen konnte, nahm sie ihm das Glas wieder ab und nippte daran. »Wie kann ein Wein nach Erdbeeren schmecken, Papà?« Wie kam es, dass man allwissend war, wenn seine Kinder einen liebten und gar nichts mehr wusste, wenn sie böse auf einen waren?
»Es ist die Traube. Sie riecht nach Erdbeeren, das überträgt sich auf den Wein.« Er roch und schmeckte die Wahrheit dieser Aussage. »Machst du gerade Hausaufgaben?«
»Ja, Mathe«, sagte sie und daraus klang eine Begeisterung, die ihn völlig verwirrte. Aber richtig, dieses Kind erklärte ihm ja alle drei Monate seine Kontoauszüge und wollte im Mai seine Steuerformulare für ihn ausfüllen.
»Was für Mathe?«, fragte er mit vorgetäuschtem Interesse.
»Ach, das verstehst du doch nicht, Papà.« Und blitzschnell: »Wann kaufst du mir einen Computer?«
»Wenn ich in der Lotterie gewinne.« Er hatte guten Grund anzunehmen, dass sein Schwiegervater ihr zu Weihnachten einen Laptop schenken würde und es missfiel ihm, dass ihm das missfiel.
»Ach, das sagst du immer.« Sie setzte sich ihm gegenüber, knallte ihre Füße auf den Tisch und legte ihre Fußsohlen gegen die seinen. Dann gab sie ihm mit dem einen Fuß einen sanften Stoß. »Maria Rinaldi hat einen und Fabrizio auch. Ich werde in der Schule nie gut sein, nicht richtig gut, solange ich keinen habe.«
»Es sieht aus, als ob du es ganz gut mit dem Bleistift könntest.«
»Sicher kann ich es, aber es dauert Ewigkeiten.«
»Ist es nicht besser, wenn du dein Gehirn trainierst, statt alles die Maschine machen zu lassen?«
»Das ist Quatsch, Papà. Unser Gehirn ist kein Muskel. Das haben wir in Biologie gelernt. Außerdem läufst du doch auch nicht in der Stadt herum, um Informationen zu kriegen, wenn du's telefonisch erledigen kannst, oder?« Er drückte gegen ihren Fuß, antwortete aber nicht. »Stimmt doch, Papà, nicht?«
»Was würdest du denn mit der ganzen Zeit anfangen, die du sparen würdest, wenn du so ein Ding hättest?«
»Ich würde mir kompliziertere Probleme vornehmen. Der Computer löst sie ja nicht für mich, weißt du. Er macht es nur schneller. Das ist alles, eine Maschine, die eine millionmal schneller addiert und subtrahiert, als wir das können.«
»Hast du eine Ahnung, was diese Dinger kosten?«
»Klar, der kleine Toshiba, den ich haben möchte, kostet zwei Millionen.«
Glücklicherweise kam Paola ins Zimmer, sonst hätte er seiner Tochter sagen müssen, welche Aussichten sie hatte, von ihm einen Computer zu kriegen. Und dann wäre sie vielleicht auf die Idee gekommen, ihren Großvater zu erwähnen, darum war er doppelt froh, Paola zu sehen. Sie brachte die Flasche Fragolino und ein zweites Glas.
Gleichzeitig verebbten die Stimmen im Fernseher und das Vorspiel zum dritten Akt begann.
Paola stellte die Flasche hin und setzte sich neben ihn auf die Sofalehne. Auf dem Bildschirm enthüllte der Vorhang ein karges Zimmer. Es war schwer, in der zerbrechlichen Frau, die dort unter einem Schal auf dem Diwan hingestreckt lag und eine Hand schlaff auf den Boden hängen ließ, Flavia Petrelli wieder zu erkennen, die er vor noch nicht einmal einer Stunde im vollen Glanz ihrer Schönheit
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