Brunetti 01 - Venezianisches Finale
unwahrscheinlich.«
»Du hast mir immer noch nicht geantwortet, was mit der Petrelli ist.«
»Ach komm, Paola, du weißt doch, dass ich mich immer irre, wenn ich es mit Intuition versuche, wenn ich zuviel Verdacht hege oder zu früh. Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Ich weiß nur eins, die ganze Sache muss etwas mit seiner Vergangenheit zu tun haben.«
»Also gut«, sagte sie, bereit, es dabei bewenden zu lassen, »essen wir. Es gibt Huhn und Artischocken und eine Flasche Merlot.«
»Gott sei Dank«, meinte er, stand auf und zog sie von der Sofalehne hoch. Zusammen gingen sie in die Küche.
Wie immer erschien in dem Moment, da das Essen auf dem Tisch stand, Raffaele, Brunettis Erstgeborener und Erbe, aus seinem Zimmer. Er war fünfzehn und groß für sein Alter. In Erscheinung und Gebärden ähnelte er seinem Vater. Ansonsten ähnelte er niemandem aus der Familie und hätte sicher energisch bestritten, dass sein Gehabe irgendwem ähnelte, ob tot oder lebendig. Er hatte ganz von selbst erkannt, dass die Welt korrupt und das System ungerecht war und die Mächtigen nur an der Macht interessiert waren und an nichts sonst.
Weil er der erste Mensch war, den diese Erkenntnis je mit solcher Macht und Reinheit überkommen hatte, bestand er darauf, all denen seine Verachtung zu zeigen, die noch nicht mit seiner klaren Sicht gesegnet waren. Das schloss natürlich seine Familie ein, ausgenommen vielleicht Chiara, die er von sozialer Schuld freisprach, weil sie noch so jung war und weil er sich darauf verlassen konnte, dass sie ihm die Hälfte ihres Taschengeldes abgab. Auch sein Großvater war offenbar irgendwie durchs Nadelöhr geschlüpft, wie er das geschafft hatte, verstand keiner.
Er besuchte das humanistische Gymnasium, das ihn auf die Universität vorbereiten sollte, aber im letzten Jahr waren seine Leistungen schlechter geworden und seit kurzem redete er davon, abzugehen, denn: »Bildung ist auch nur ein Teil des Systems, das die Arbeiter unterdrückt.« Auch hatte er nicht vor, sich dann eine Arbeit zu suchen, denn das würde ihn abhängig machen von ›dem System, das die Arbeiter unterdrückt‹ Folglich weigerte er sich also, Bildung anzunehmen, um nicht zum Unterdrücker zu werden und um nicht unterdrückt zu werden, weigerte er sich, eine Arbeit anzunehmen. Brunetti fand Raffaeles Argumentation in ihrer Schlichtheit geradezu jesuitisch.
Raffaele lümmelte mit aufgestützten Ellbogen am Tisch und Brunetti fragte ihn nach seinem Befinden, ein Thema, das man immer noch gefahrlos anschneiden konnte.
»Okay.«
Darauf Chiara: »Raffi, gib mal das Brot rüber.«
Und Paola: »Iß diese Knoblauchzehe nicht mit, Chiara. Den Gestank wirst du tagelang nicht los.«
Und Brunetti: »Schmeckt prima. Soll ich die zweite Flasche Wein aufmachen?«
»Ja, bitte«, zwitscherte Chiara, die ihr Glas hochhielt. »Ich hatte noch gar keinen.«
Brunetti holte die Flasche aus dem Kühlschrank und entkorkte sie. Dann ging er um den Tisch herum und goss allen ein. Als er zu seinem Sohn kam, legte er ihm beim Eingießen die Hand auf die Schulter. Raffaele schüttelte sie ab und tat, als wollte er nach den Artischocken greifen, die er nie aß.
»Was gibt's zum Nachtisch?«, fragte Chiara.
»Obst.«
»Keinen Kuchen?«
»Gierschlund«, sagte Raffaele, aber das sollte eine Feststellung sein, keine Kritik.
»Hat jemand Lust, nach dem Essen Monopoly zu spielen?«, fragte Paola, legte aber, bevor die Kinder zustimmen konnten, die Bedingungen fest. »Nur, wenn die Hausaufgaben erledigt sind.«
»Ich habe meine fertig«, sagte Chiara.
»Ich meine auch«, log Raffaele.
»Ich übernehme die Bank«, sagte Chiara.
»Bürgerlicher Gierschlund«, war Raffaeles Kommentar.
»Ihr beide wascht ab«, bestimmte Paola, »dann können wir spielen.« Beim ersten Protestgejaule fuhr sie auf. »An diesem Tisch wird nicht Monopoly gespielt, bevor das Geschirr nicht abgeräumt, abgewaschen und im Schrank ist.« Und als Raffaele den Mund öffnete, um etwas zu entgegnen, meinte sie zu ihm gewandt: »Und wenn du das für eine bürgerliche Sichtweise hältst, hast du eben Pech gehabt. Hühnchen essen ist auch ganz schön bürgerlich, aber ich habe keine Beschwerden über das Essen gehört. Also, wasch ab, dann spielen wir.«
Brunetti war immer wieder verblüfft darüber, dass sie in diesem Ton mit Raffaele reden konnte und damit durchkam. Jedes Mal, wenn er seinen Sohn auch nur andeutungsweise zurechtweisen wollte, endete die Szene mit
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